Andreas Vesalius (1514 – 1564)

vesaliusMeisterhafter anatomischer Zeichner des menschlichen Körpers

Andreas Vesalius kam am letzten Tag des Jahres 1514 in Brüssel zur Welt, als Sohn des Andreas Vesalius, der als Apotheker im Dienste Kaiser Karl V. stand. Nach der in Brüssel absolvierten Schulzeit immatrikulierte sich Vesalius im Februar 1530 in Löwen (Leuven, Niederlande). Da die medizinische Fakultät in Löwen keinen guten Ruf genoss, ging Vesalius im September 1533 zum Medizinstudium nach Paris, wo er bei Günther von Andernach und Jacobus Sylvius, zwei entschiedenen Anhängern Galens, studierte. Professor Sylvius kannte die Schriften von Galen besser als den menschlichen Körper. Häufig konnte der Ostensor ein Körperteil nicht finden, über das Sylvius aus dem Galen vortrug.

Vesalius äusserte später einmal kritisch, dem Studenten würde wenig geboten, was ein Metzger in seinem Laden nicht besser lehren könnte. In der Dedicatio der „Fabrica“ schreibt er:

„Diese Absicht (ein anatomisches Grundwerk zu schreiben) hätte ich freilich niemals ausführen können, wenn ich nicht, als ich in Paris Medizin studierte, mit eigener Hand zugefasst, sondern fraglos die verschiedenen mehr zufälligen und oberflächlichen Demonstrationen einiger Organe hingenommen hätte, wie sie mir und meinen Mitstudenten von ungelernten Badern in einer oder zwei öffentlichen Sektionen vorgeführt wurden“.

Geschult durch die Tiersektionen von Jacobus Sylvius habe er schliesslich, auf Wunsch der Studenten, selbst eine Sektion vorgenommen, „vollständiger, als es jemals geschehen war“.

In seiner Pariser Zeit stahl Vesalius Leichen und sammelte auf dem Friedhof der Unschuldigen Kinder Knochen ein, die ihm nicht selten von wild herumstreunenden Hunden streitig gemacht wurden. Später wurde er so geschickt, dass er mit Studenten darauf wettete, mit geschlossenen Augen, nur durch Berührung, Knochen bestimmen zu können.

Wegen eines Kriegs zwischen Frankreich und dem deutschen Kaiser verliess Vesalius 1536 Paris und kehrte nach Löwen zurück. Dort führte er, mit Unterstützung des Bürgermeisters, die Sektion wieder ein, die dort lange nicht mehr ausgeübt worden war. 1537 erwarb er den Grad eines Baccalaureus.

Im Herbst 1537 immatrikulierte sich Vesalius an der Universität Padua, damals die erste Adresse für Medizin. Schon am 5. Dezember 1537 wurde er („magna cum laude“) zum Dr. med. promoviert. Und nur einen Tag später wurde er zum Explicator chirurgiae ernannt, mit Vorlesungen über die Chirurgie und Anatomie. Vesalius erregte grosses Aufsehen, als er seine erste Sektion eigenhändig vornahm.

Zum Gebrauch seiner Studenten fertigte Vesalius drei Lehrtafeln über das Adernnetz an. Zusammen mit drei Skelettdarstellungen, die der Tizianschüler Jan Stephan von Kalkar zeichnete, wurden sie 1538 als „Tabulae anatomicae sex“ in Venedig veröffentlicht. In diesem schmalen Werk haben wir die Vorstufe zur späteren „Fabrica“.

Bis zum Winter 1539 hatte Vesalius genug Erfahrungen gesammelt, um sich zum Angriff gegen die Anatomie Galens gerüstet zu fühlen. Bei einem Gastvortrag in Bologna im Januar 1540 zeigte er, dass die menschliche Anatomie nur von menschlichen Leichen gelernt werden könne, nicht anhand von Tieren. Von dieser Vorlesung ist uns glücklicherweise der Augenzeugenbericht eines Studenten, Baldasar Heseler, erhalten. Dieser Bericht wurde erst in unserem Jahrhundert wieder aufgefunden und 1959 in Uppsala publiziert.

Von jetzt an arbeitete Vesalius bis zum Sommer 1542 intensiv an seinem Hauptwerk. Er verpflichtete die besten Zeichner und Holzschneider. Als Verleger wählte er Johannes Oporinus in Basel. Im Sommer 1542 ging Vesalius nach Basel, um den Druck zu überwachen. Dort sezierte er auch eine Leiche, die heute noch im anatomischen Institut in Basel aufbewahrt ist.

Im August 1543 erschien die „Fabrica“, gefolgt von einer Kurzfassung für die Hand des Studenten, „Epitome“ genannt. Die Fabrica gliedert sich in sieben Bücher.

  • Das erste Buch, der Höhepunkt des ganzen Werkes, ist dem Knochenbau gewidmet und enthält die drei grossartigen Skelettdarstellungen.

 

  • Das zweite Buch handelt von den Muskeln. Hier finden sich die 14 ganzseitigen Holzschnitte mit den berühmten „Muskelmännern“. Teilweise verwendet Vesalius Ziffern für die Bezeichnung von Muskeln. Damit hat er sich aber nicht durchgesetzt.

  • Das dritte Buch über die Adern, ist etwas schwächer geraten. Vesalius gelang es nicht, die Komplexität des Aderngefüges zu meistern. Mehrfach greift er hier auch auf die Tieranatomie zurück.
  • Im vierten Buch über die Nerven trennt Vesalius diese begrifflich von den Sehnen und Bändern. Galen gegenüber hält er fest, dass die Nerven nicht hohl sind.
  • Buch fünf schildert recht eingehend die Organe des Unterleibs. Vesalius betont gegen Galen, dass die Leber aus einem Stück besteht, nicht aus fünf Lappen, wie jener behauptet. Mehrere Lappen kämen nur bei Tieren vor. Die Darstellung der weiblichen Genitalien fällt etwas ab, da Vesalius insgesamt nur sechs weibliche Leichen zur Verfügung standen, darunter eine Selbstmörderin, eine schwangere Ermordete und ein halbverwestes sechsjähriges Mädchen, das ihm seine Studenten beschafft hatten.
  • Im sechsten Buch (Organe der Brusthöhle) schliesst Vesalius zwar aus, dass es in der Herzmittelwand Öffnungen gäbe, durch die, gemäss Galen, das Blut von der rechten Herzkammer in die linke dringen könne, er weiss aber selbst keine bessere Erklärung. Der Blutkreislauf sollte erst 1628 von Harvey entdeckt werden. Zur Frage nach dem Sitz der Seele (im Herzen?) äussert sich Vesalius mit Rücksicht auf die kirchliche Zensur nicht.
  • Das siebte Buch schliesst mit der Hirnanatomie. Hier weist Vesalius die Existenz des Rete mirabile, eines Aderngeflechts an der Hirnbasis, in dem der Lebensgeist sich bilde, entschieden zurück. Galen habe hier einmal mehr irrtümlich von der Tieranatomie auf die des Menschen geschlossen.Trotz ihrer Mängel bringt die „Fabrica“ mehr neue Erkenntnisse, als sie bis dahin je ein einzelner Autor geliefert hatte. Die Hauptleistung des Werks liegt darin, bewiesen zu haben, dass die menschliche Anatomie nur an Leichen von Menschen erforscht werden kann.Vesalius war aber nicht der erste, der den Lehren Galens skeptisch gegenüberstand. Er war aber der erste, der seinen eigenen Augen mehr glaubte als dem kanonischen antiken Text. Der grosse Arzt Berengario da Carpi (1470 – 1530) gibt ein vortreffliches Beispiel damaliger Haltungen. Zum einen wagte er seine Erkenntnisse nicht in einer selbständigen Schrift darzulegen, vielmehr versteckte er sie im Kommentar seiner Neuausgabe von Mondinos „Anatomia“ („Commentaria cum additionibus super anatomiam Mundini“, Bologna 1552.) Sodann schreibt er: „Was ich gegen Avicenna und andere Autoren sagte, geschah im Vertrauen auf meine Beobachtung, wenn auch mit Furcht“. Der Gipfel des Aberwitzes wird aber erreicht, wenn er, der sich rühmt, über hundert Sektionen durchgeführt zu haben, dem „Rete mirabile“ Galens eine traditionskonforme ausführliche Beschreibung zuteil werden lässt, um anschliessend zu bemerken: „Ego istud rete nunquam vidi!“Der bleibende Ruhm der „Fabrica“ gründet auf der ausserordentlichen Qualität der Illustrationen. Lange Zeit hat man geglaubt, sie stammten von Jan Stephan von Kalkar, einem Schüler Tizians, der auch die drei Skelette der „Tabulae anatomicae“ von 1638 geschaffen hatte. Heute aber nimmt man an, dass Tizian selbst die 17 ganzseitigen Holzschnitte gestaltet hat.Nur einer hätte Vesalius übertreffen können: Leonardo da Vinci (1452 – 1519). Leonardo hatte sich intensiv mit dem Bau des menschlichen Körpers beschäftigt, hatte selbst an die 30 Leichen seziert. Seit 1495 trug er sich mit dem Plan, ein anatomisches Handbuch zu schaffen. 228 Blätter mit anatomischen Zeichnungen erster Güte sind uns von ihm erhalten, heute im Besitz des englischen Königshauses in Windsor. Aber leider blieb es, wie bei Leonardo häufig, beim Plan. Er konnte kein Latein, seine Sprache war das Zeichnen. So war er seinem Vorhaben literarisch nicht gewachsen. Ausserdem war er ein Perfektionist. Somit blieb seine Leistung zu seiner Zeit folgenlos. Erst heute sind wir in der Lage, sein Genie zu ermessen.Vesalius hatte sein Hauptwerk im Alter von 28 Jahren vorgelegt. Wie kann ein solches Leben weitergehen? Vesalius sah den Beruf des Arztes ganzheitlich. Er wollte sich nicht auf die Anatomie spezialisieren, er wollte auch praktisch als Arzt wirken. So trat er, wie schon sein Vater, in den Dienst von Kaiser Karl V., und zwar als Leibarzt. Das blieb er 13 Jahre lang bis zur Abdankung des Kaisers (1555). Anschliessend setzte er diese Tätigkeit bei dessen Sohn, Philipp II., fort. 1562 wirkte er beim Ärztekollegium mit, das Don Carlos, den Sohn Philipp II., behandelte. Erst 1564 sann Vesalius auf Änderung. Er nahm eine Pilgerfahrt ins Heilige Land zum Vorwand, um in Venedig wegen einer Rückkehr auf den Lehrstuhl für Anatomie in Padua zu verhandeln. Doch es sollte nicht sein. Auf der Rückreise geriet Vesalius‘ Schiff in einen Sturm und strandete bei der Insel Zákinthos. Dort starb Vesalius.Der hohe Rang von Vesalius wurde bereits von seinen Zeitgenossen erkannt. Am 21. April 1556, wenige Monate vor seinem Thronverzicht, hat Kaiser Karl V. Vesalius urkundlich in den Adelsstand erhoben. In der Urkunde heisst es: „Ohne Zweifel sind sie(die sieben Bücher der Fabrica) das bedeutendste Werk, das über die Anatomie geschrieben worden ist, und berühmt durch ihre Illustrationen„. Dem ist nichts beizufügen.

    Hauptwerk

Humani corporis fabrica, 7 Bände, Basel 1543