Naturphilosoph und Morphologe
Hans Driesch wurde am 28. Oktober 1867 in Bad Kreuznach geboren und starb am 16. April 1941 in Leipzig. Driesch besuchte 1877-1886 ein humanistisches Gymnasium, die Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg. Er studierte in Freiburg, München und Jena Zoologie. 1889 promovierte er in Jena bei Ernst Haeckel mit einer Arbeit unter dem Titel ‚Tektonische Studien an Hydroidpolypen‘, die sich mit der Struktur von Polypenstöcken beschäftigte.
Da seiner Ansicht nach die Stammbaum-Methodik nicht ausreichte, um dynamische Probleme der Biologie zu bewältigen, beschäftigte er sich nach einer Forschungsreise in die Tropen 1890 mit biologischen Werken die von Gegnern Haeckels geschrieben worden waren. Die aufgrund dieser Überlegungen entstandene Arbeit über ‚Die mathematisch-mechanische Betrachtung morphologischer Probleme der Biologie‘ (1891) führte zum äusseren Bruch mit Haeckel.
Experimentelle entwicklungsgeschichtliche Arbeiten begründeten seinen Ruhm als Entwicklungsphysiologe. Über seinen philosophischen Bildungsweg schreibt Driesch in einer Selbstdarstellung: „Als Student habe ich einmal, in Freiburg bei Riehl, ein einstündiges philosophisches Kolleg über Willensfreiheit gehört. In Jena verbot jedoch der ‚gute Ton‘ den jungen Naturforschern damals den Besuch philosophischer Vorlesungen, und so blieb jenes Freiburger Kolleg das einzige. Nun fiel mir aber, als ich eben promoviert hatte, Liebmanns ‚Analysis der Wirklichkeit‘ in die Hände. Dieses Werk hat einen sehr starken Einfluss auf mich gehabt und mich zunächst einmal zum Studium der Originalwerke Kants und Schopenhauers, dann weiter Descartes‘, Lockes und Humes geführt. So war bald eine gewisse philosophische Grundlage da, vervollkommnet durch Riehls ‚Kritizismus‘, und auf ihr gestalteten sich nun meine nächsten, von den Experimenten her beeinflussten, biotheoretischen Schriften.“ (4).
In diesen ‚biotheoretischen Arbeiten‘ (‚Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft‘, 1893, ‚Analytische Theorie der organischen Entwicklung‘, 1894) verwendete Driesch einen Teleologie-Begriff, über den er später schrieb: „Mein Teleologie-Begriff war aber, mir selbst unbewusst, in einem sehr wesentlichen Punkte unbestimmt, in demselben Punkte, in dem das meines Erachtens der kantische ist. Ich hatte immer schlechthin von ‚zweckmässig‘, von ‚teleologisch‘ geredet. Was ich gemeint hatte, war aber durchaus nicht immer ‚Vitalismus‘, sondern etwas, was ich später als ’statische Teleologie‘ bezeichnet habe oder auch als ‚vorgebildete Zweckmässigkeit‘; ich meinte nämlich damals, dass die Konstellation der Materie, als ein für alle Mal Gegebenes, die hinzunehmende Grundlage der zweckmässigen und ‚harmonischen‘ organischen Vorgänge sei, während diese Vorgänge selbst vom physikalisch-chemischen Typus seien.“ (4). Die Überwindung dieses Teleologie-Begriffes führte Driesch zum Vitalismus.
Die 1899 erschienene Schrift ‚Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge, ein Beweis vitalistischen Geschehens‘, bezeichnet Driesch als seine erste vitalistische bzw. dynamisch-teleologische Schrift. (4). Zentraler Begriff dieser Arbeit ist das harmonisch-äquipotentielle System. Driesch schreibt: „Harmonisch-äquipotentielle Systeme nenne ich solche in der Embryologie oder bei der Wiederherstellung der gestörten Organisation (Restitution) auftretenden Zellgesamtheiten, für deren organisatorische Leistung es nichts ausmacht, ob man ihnen beliebige Teile nimmt oder ihre Teile beliebig verlagert.“ (4).
Ab 1902 machten experimentelle Arbeiten nicht mehr das Zentrum seiner Tätigkeit aus. Der Schwerpunkt verlagerte sich auf philosophische Probleme.
Zunächst bemühte er sich, die Überlegungen vom morphogenetischen Gebiet auf die gesamte Biologie zu übertragen. Die Ergebnisse dieser Arbeit veröffentlichte er in den Schriften ‚Die organischen Regulationen‘ (1901) und ‚Die ‚Seele‘ als elementarer Naturfaktor‘ (1903).
Über sein nächstes Werk schreibt H. Driesch: „In der Schrift Naturbegriffe und Natururteile (1904) fasste ich zusammen, was ich über die Beziehungen zwischen Organischem und Anorganischem zu sagen hatte. Dieses Buch enthält als Hauptsache eine eingehende Kritik der Energetik und, als deren Wesentlichstes, den Nachweis, dass der sogenannte ‚zweite Hauptsatz‘ aus zwei logisch ganz heterogenen Teilen besteht; zum anderen bringt es zum ersten Male im engeren Sinne philosophische Fundierungen und Kritisches über den Kausalitätsbegriff; endlich denkt es natürlich die Hauptfrage zu lösen, wie Entelechie zu Materie und Energie in Beziehung stehe.“ (4).
1905 schrieb Driesch eine kurze Geschichte des Vitalismus und stellte zudem sein eigenes ‚biotheoretisches‘ System dar. Die entsprechende Arbeit heisst ‚Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre‘.
In das Jahr 1905 fällt auch das Studium von Werken von Sigwart, Lotze, Wundt, Windelband und Überweg-Heintze, sowie eigene Studien zur reinen Logik und Kategorientheorie, die ihn später zur Ordnungslehre führten.
Die schottische Universität Aberdeen wählte Driesch 1907/1908 zum Gifford Lecturer. Zehn grosse Vorträge waren in jedem dieser beiden Jahre zu halten; sie mussten in Buchform erscheinen. Als Thema wählte Driesch ‚The Science and Philosophy of the Organism‘.
Driesch schreibt über die nächsten Jahre: „Die Jahre 1907/08 hatten mich, freilich im Ausland und nur auf kurze Zeit zum ersten Male zum Universitätslehrer gemacht. Ich hatte Gefallen daran gefunden, und so hatten denn einige Kollegen in Heidelberg es nicht schwer, mich zur Habilitation für ‚Naturphilosophie‘ zu überreden. Von allen üblichen Formalitäten wurde dabei abgesehen. So war ich denn also (1909) Provatdozent, zunächst in der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät, wurde 1911 Extraordinarius und trat Anfang 1912 in die philologische Fakultät über.“ (H. Driesch: Mein System und sein Werdegang, 55). Interessant ist die Bestimmung der Philosophie durch Driesch: „Philosophie ist das gefügehafte Wissen vom Wissen und von allem Gewussten als Gewusstem. Der Zusatz ‚als Gewusstem‘ scheidet Philosophie von Wissenschaft im eigentlichen Sinne; ein Teil der Wissenschaft wird sofort zu einem Teil der Philosophie, wenn er als gewusster betrachtet wird und, neben einer Inhaltlichkeit, in seinem Gewusstsein erfasst wird.“ (H. Driesch: Mein System und sein Werdegang, 58).
Driesch gliedet sein philosophisches System in drei Teile: die Lehre vom Ausgang, die Ordnungslehre und die Wirklichkeitslehre.„Von diesen drei Teilen ist aber die erste keine eigentliche ‚Lehre‘, sondern kommt vor aller Lehre; er besteht in der schlichten selbstbesinnlichen Feststellung, dass es einen von allen anderen Sachverhalten unterschiedlichen Ursachverhalt gibt, welcher allein über jeden Zweifel erhaben und auch allein zum Ausgang der Lehre vom Wissen geeignet ist.“ (4).
Der Ursachverhalt besteht nach Driesch aus drei Bestandteilen:
(1) ‚Ich, der um sein Wissen Wissende‘
(2) ‚habe bewusst‘
(3) ‚Etwas‘.
Im Sommer 1909 begann Driesch mit der Ausarbeitung seine logischen Systems, das 1912 unter dem Titel ‚Ordnungslehre‘ erschien.
Die Absicht, welche ursprünglich zu ihrem Entwurf geführt hatte, war die logische Rechtfertigung des Vitalismus gewesen. Driesch untersucht weiter die Fragen: Was sind Kategorien? Wie komme ich zu Kategorien? Was heisst Denken? Wovon hat das Denken auszugehen? Die Ordnungslehre wurde von Driesch bewusst ‚methodisch-solipsistisch‘ gestaltet.
1903 entwarf Driesch seine ‚Wirklichkeitslehre‘, in der er zeigen will, dass Metaphysik als Lehre vom ‚Wirklichen‘, vom ‚An sich‘ hypothetisch und als induktive Wissenschaft möglich ist.
In seiner 1916 erschienen Schrift ‚Leib und Seele‘ (2. Aufl. 1920) bemüht sich Driesch den psychomechanischen Parallelismus durch den Vergleich der ‚Mannigfaltigkeitsgrade‘ des Physischen und Psychischen zu widerlegen.
Im Frühjar 1920 siedelte Driesch als Ordinarius nach Köln über. Im Herbst 1921 wurde er als Nachfolger Volkelts nach Leipzig berufen, wo er bis zu seiner vorzeitigen Emeritierung wirkte. In Leipzig schrieb Driesch vor allem Arbeiten, die seine bisherigen Überlegungen präszisierten.
Die Grundidee der Ethik von Driesch geht auf das Ganzheitsprinzip zurück: Die ganzheitliche unsterbliche Seele des Menschen sei in materielle Ketten geschlagen. Das Urbefinden des Menschen sei das Leiden. Die Aufgabe der Menschheit besteht darin, das Leiden zu lindern, zu bekämpfen.
Ethik müsse auf politischem Gebiet fruchtbar werden. Deshalb wandte Driesch sich mit seinen sittlichen Hauptforderungen (Beseitigung der Kriege, des Nationalismus, des Rassismus, des Antisemitismus und Kolonialismus) vor allem an die Staatsmänner und Lehrer. Er empfahl Pazifismus als Grundhaltung und sah in passiver Existenz und Boykottmassnahmen die einzigen Mittel im Friedenskampf. Eine Revolution zum Sturz eines Diktators war für ihn ein extremes und ethisch nicht wünschenswertes Mittel.
Driesch zeichnete das Bild einer künftigen geistigen Gemeinschaft der Menschheit, die auf den durch alle Völker erarbeiteten kulturellen Traditionen aufbaue und über den Völkerbund zum Menschheitsstaat entwickelt werden müsse.
Driesch war führend in der ‚Liga für Menschenrechte‘ tätig, die die Ideale der Völkerverständigung propagierte. Er argumentierte öffentlich gegen die den Faschismus vorbereitende Liaison von Junkertum, Militarismus und Reaktion. Driesch verurteilte öffentlich faschistische und antisemitische Kampagnen und Ausschreitungen, so z. B. die gegen Theodor Lessing, der 1933 ermordet wurde. In einem Rundfunkvortrag anlässlich des 12. Jahrestages der Novemberrevolution warnte er das deutsche Volk vor der drohenden Diktatur.
Nach seiner durch die faschistischen Machthaber veranlassten vorzeitigen Emeritierung 1933 traten parapsychologische Probleme in den Vordergrund seiner Arbeit.
Ausgewählte Werke
- (1) Philosophie des Organischen, 2 Bde, Leipzig 1909
- (2) Ordnungslehre. Ein System des nichtmetaphysischen Teiles der Philosophie. Jena 1912
- (3) Wirklichkeitslehre. Ein metaphysischer Versuch. Leipzig 1917
- (4) H. Driesch: Mein System und sein Werdegang. In: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. (2. Aufl.) Leipzig 1923, 49-78).
- (5) Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch. Leipzig 1927
- (6) Der Mensch und die Welt. Leipzig 1928