Hans Spemann (1869 – 1941)

spemannforschte an Amphibienkeimen

Am 27. Juni 1869 wurde Hans Spemann als Sohn eines Verlegers in Stuttgart geboren. Hier legte er 1888 seine Reifeprüfung ab und arbeitete dann ein Jahr als Lehrling im Verlag seines Vaters. Nach seiner Dienstzeit als einjähriger Freiwilliger studierte er von 1891 bis 1893 Medizin in Heidelberg und München.

Als Spemann 1894 in Würzburg bei Boveri mit dem Thema „Zur Entwicklung des Strongylos paradoxus“ promovierte, hatte die Entwicklungsphysiologie der Tiere gerade durch die Arbeiten von Roux und Driesch ihre Grundlagen erhalten und war in die Phase ihrer biowissenschaftlichen wie philosophischen Auseinandersetzungen eingetreten.

Sowohl die entgegengesetzten philosophischen Standpunkte als auch die widersprechenden Deutungen der experimentellen Ergebnisse von Roux (Mosaikentwicklung) und Driesch (Regulationsentwicklung) beherrschten die Diskussion. Bereits in seiner Habilitationsschrift (1898) mit dem Thema „Über die erste Entwicklung der Tuba Eustachii und des Kopfskeletts von Rana temporaria“ wendet sich Spemann der Amphibienentwicklung zu.

Die Keimplasmatheorie von Weismann hat Spemann dazu angeregt, sich ganz dem Determinationsproblem der Embryonalentwicklung zuzuwenden, wie er überhaupt in theoretischer Hinsicht wesentlich von Weismann ausging. Weismann hatte mit der Keimplasmatheorie als erster eine Erklärung auf materialistischer Grundlage für die Ähnlichkeit aufeinanderfolgender Generationen (Vererbung) gegeben.
Die Entwicklung des Wirbeltierauges erschien Spemann als ein günstiges Objekt, um die Frage zu beantworten, welcher Art die Wechselwirkungen zwischen den Teilen eines sich entwickelnden Organs seien. Fragestellung und Methode seiner Untersuchung lassen Originalität und die Absicht erkennen, sich nicht von Spekulationen beirren zu lassen.

Da das Wirbeltierauge sich aus dem Zentralnervensystem (Augenbecher) und Epidermis (Linse) aufbaut, ergab sich hier zwangsläufig die Frage nach der Wechselwirkung zwischen Augenbecher und Linse in der Entwicklung des Auges. Die geringe Grösse des Objektes und die Notwendigkeit, alle Experimente sehr exakt auszuführen, veranlassten Spemann, völlig neue Methoden der mikrochinirgischen Operationstechnik zu entwickeln. Eine ganze Serie gezielter Experimente, bei denen besonders die embryonalen Transplantationen von Bedeutung waren, sollten Aufklärung darüber geben, wodurch die Bildung der Linse hervorgerufen wird, und welches die Ursachen für das „Zusammenpassen“, für die Grössenharmonie – von Augenbecher und Linse sind.

Spemann hat wohl als erster eine Antwort auf diese Fragestellung auf experimentellem Wege angestrebt und damit dem wissenschaftlichen Experiment, der Praxis, die entscheidende Rolle als Wahrheitskriterium naturwissenschaftlicher Aussagen eingeräumt. Innerhalb der Serie wurden die einzelnen Transplantationen so variiert, dass bei einigen Amphibienkeimen die linsenbildende Epidermis, bei anderen der Augenbecher entfernt und bei weiteren die Anlage der Linse durch ortsfremde Epidermis (spätere Bauchhaut) ersetzt wurde. Es zeigte sich: Die normale Anlage der Linse erfordert die induzierende Wirkung des Augenbechers bei verschiedenen Amphibienarten in unterschiedlichem Grade. Die induzierende Wirkung ist auch nicht mechanischer Art, wie bisher angenommen wurde, sondern es lag eher eine biochemische Vermittlung vor.

Bleiben bei der Entfernung des Augenbechers Reste zurück, die sich dann zu verkleinerten Augenbechern entwickelten, so war zum Teil auch die induzierte Linse entsprechend kleiner. Dies war dann der Fall, wenn der artspezifische induzierende Einfluss des Augenbechers sehr gross war. Etwas anders waren die Verhältnisse beim Frosch Rana esculenta. Hier bildet sich die Linse wesentlich auf dem Wege der Selbstdifferenzierung heraus, und die induzierende Wirkung •des Augenbechers ist gering. In diesen Fällen war die Linse für den kleinen Augenbecher zu gross. Hier kam es zwischen Augenbecher und Linse zu einer Disharmonie der Grössenverhältnisse. Darüber hinaus wurde ersichtlich, dass die Fähigkeit der Epidermis zur Linsenbildung nach Ort und Zeit begrenzt ist. Während der Linsenexperimente hat Spemann nie sein eigentliches Ziel – die kausal-analytische Erforschung der Frühentwicklung des Amphibienkeimes – aus dem Auge verloren.

Während er die Linsenexperimente wesentlich in der Zeit von 1898 bis 1912 in Würzburg und Rostock (hier Ordinarius für Zoologie) durchführte, hat er sich den weiteren Problemen der Amphibienentwicklung ab 1914 (2. Direktor des Kaiser-Wilhelm-lnstitutes für Biologie in Berlin-Dahlem) und 1919 (Direktor des Zoologischen Institutes der Universität Freiburg) zugewandt. Hinsichtlich der Deutung der ersten Furchungsebene standen sich die Auffassungen von Roux und Driesch diametral gegenüber. Dass sie nicht frei von vorschnellen Verallgemeinerungen waren, konnte Spemann in überzeugender Weise nachweisen. Während Roux mit Amphibienkeimen arbeitend die Ungleichwertigkeit der ersten Furchungszellen festgestellt hatte, konnte Driesch deren Gleichwertigkeit (Aquipotenz) bei Seeigeln beobachten. Der Anstichversuch von Roux wurde methodisch verändert, wobei die Fragestellung erhalten blieb: Die Bedeutung der ersten Furchungsebene und die Entwicklungspotenzen der ersten Furchungszellen. Spemann hat Amphibienkeime mit einem Säuglingshaar geschnürt. In prägnanter Weise haben die Schnürungen demonstriert, dass die Aussagen von Roux nur unter bestimmten Bedingungen Gültigkeit haben. Durch geschickte Variation der Lage der Schnürungen zur ersten Furchungsebene konnten Beweise dafür erbracht werden, dass bei den Amphibien die Kerne der ersten Furchungszellen äquipotent sind, nicht aber die entsprechenden Plasmabereiche. Damit wurde auf eine Tatsache hingewiesen, die sich in der Folgezeit als sehr bedeutsam erwies, auf die Wechselwirkung zwischen Kern und Plasma und deren Einfluss auf das Determinationsgeschehen. Es war ihm schliesslich möglich, je nach Wunsch, Larven mit zwei Köpfen und nur einem Schwanz oder mit nur einem Kopf und zwei Schwänzen zu erzeugen.

Wenn abnorme Formbildungen vorausgesagt und experimentell geschaffen werden können, dann weisen diese Tatsachen auf objektive Gesetzmässigkeiten hin und schliessen die Wirkung einer nicht materiellen, ausserräumlichen „Entelechie“ aus. Obwohl Spemanns gesamte wissenschaftliche Arbeit deutlich macht, dass er die Ursachen der Bioprozesse in materiellen, nachweisbaren, erkennbaren Faktoren suchte und nicht von der Annahme einer entelechialen Kraft ausging, vermissen wir bei ihm eine explizite philosophische Stellungnahme zu diesem Problem. Die Fortsetzung der Experimente mit Schnürungen auf dem Stadium der Blastula und der frühen Gastrula führten schliesslich zur Entdeckung jenes Keimbereiches, der in der Entwicklung den übrigen Teilen voraus ist und von dem Wirkungen ausgehen, die die Nachbarbereiche in eine bestimmte, im Umfang ihrer Reaktionsnorm liegende Entwicklungsrichtung zwingt. Spemann nannte diesen Keimbereich, der die dorsale (obere) Randzone des Urmundes der frühen Gastrula umfasst und auch als dorsale Urmundlippe bezeichnet wird, das Organisationszentrum (Spemann, Mangold 1924). Es spricht für Spemanns Überzeugung von der Erkennbarkeit dieses Phänomens, dass nun vornehmlich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Organisatorwirkung und Differenzierung im Vordergrund seiner Untersuchungen stand. Auf Anregung von Spemann hat seine Schülerin Hilde Mangold die obere Randzone des Urmundes in die spätere Bauchgegend einer Gastrula transplantiert. Die Wirkung des Transplantates – es wurde als Organisator bezeichnet – war insofern erstaunlich, weil es gelang, einen ganzen sekundären Embryo in der Bauchgegend, dort gleichsam parasitierend, zu erzeugen. Der Begriff des „Organisators“ war, wie sich später zeigte, mit einer terminologischen Ungenauigkeit behaftet, weil einfach ein Gewebestück, selbst wenn es abgetötet war, und auch verschiedene chemische Substanzen von sich aus nicht die Fähigkeit haben können, in einer indifferenten Umgebung einen normalen Embryo zu „organisieren“. Diese Schwierigkeit wurde von Spemann anerkannt, und er hat zugegeben, „dass der Begriff des Organisators problematisch wurde, ein toter Organisator ist ein Widerspruch in sich selbst“ (Spemann, 1936, S. 176).

Die Wechselwirkung zwischen Transplantat und Wirtsgewebe-Induktion erwies sich als kompliziertes Zusammenspiel vieler Teile. Die Überleitung zum Begriff des Induktionssystems wurde notwendig. Im Induktionssystem, bestehend aus dem Aktionssystem (Induktor) und dem Reaktionssystem (Wirtsgewebe), erwies sich das Reaktionssystem als die bestimmende Komponente, da die Qualität des induzierten Organs, also Richtung und Art des Geschehens im Reaktionssystem begründet liegt (Spemann, 1936, S. 276).

Für Spemann standen die Gesetzmässigkeiten des Zusammenwirkens der Teile zu einem Ganzen immer im Vordergrund. Über die Experimente hinaus wurde auch die Normalentwicklung des Keimes als ein rastloses Geschehen erkannt, in welchem auch durch ständige Ortsbewegungen der Teile fortlaufend neue Lagebeziehungen der Teile zueinander geschaffen werden. Veränderte Lagebeziehungen bewirken auch eine neue Wechselwirkung zwischen den Teilen. Die moderne Entwicklungsphysiologie hat diese Erkenntnisse erfolgreich weiterentwickelt und den der Induktion (Auslösung) entgegenwirkenden Einfluss der Inhibition (Hemmung) erkannt. Die Keimesentwicklung würde demzufolge als ein System von in sich widersprüchlichen Prozessen (Auslösungshemmung) aufzufassen sein.

Rückblickend hat sich Spemann über den sich entwickelnden Tierkeim in einer ganz eigentümlichen Weise geäussert. Er schreibt nämlich, er sähe nun, „dass diese Entwicklungsprozesse, wie alle vitalen Vorgänge, in der Art ihrer Verknüpfung mit nichts so viel Ähnlichkeit haben wie mit den vitalen Vorgängen, von denen wir die intimsten Kenntnisse haben, den psychischen.“ (siehe weiter unten).

Entsprechend dem materialistischen Zug der modernen Naturwissenschaft hat diese Aussage Missbilligung hervorgerufen. Der Biologe Otto Koehler beispielsweise reagierte darauf mit den schroffen Worten: „… diesen Satz hätte Spemann nicht schreiben dürfen!“.

Und doch hat er ihn geschrieben.

Für seine Leistungen auf dem Gebiet der experimentellen Entwicklungsphysiologie erhielt Spemann 1935 den Nobelpreis. Obwohl Spemann seine Untersuchungen nur an wenigen Objekten durchgeführt hat, gestatten sie doch einen tiefen Einblick in die allgemeinen Gesetze der Formbildung.

 

Schlussbemerkungen aus: Experimentelle Beiträge zu einer Theorie der Entwicklung

Es ist nicht meine Absicht, die hier mitgeteilten experimentellen Beiträge zu einer Theorie der Entwicklung mit dem Versuch einer solchen zu beschliessen. Es steht zwar nicht ganz so, wie Gurwitsch (1927) mir mit liebenswürdiger Ironie vorhält, dass ich mich in meiner Abneigung gegen Theorien auch durch die wunderbarsten mir entgegentretenden Tatsachen nur wenig beirren lasse. Aber allerdings widerstrebt es mir, Hypothesen aufzustellen, wo, freilich durch mühsame experimentelle Einzelarbeit, die Gewinnung gesicherter Tatsachen möglich ist. Werden solche Tatsachen nicht wahllos zusammengetragen, sondern in folgerichtigem Fortschreiten gewonnen, so fügen sie sich hernach von selbst zu einem planvollen Ganzen, zu einer echten Theorie, einer Gesamtschau alles in der Erfahrung Gegebenen zusammen.

Als Vorbild schwebt mir dabei die Arbeitsweise des Archäologen vor, der aus den Bruchstücken, die allein, er in Händen hält, ein Götterbild wieder zusammenfügt. Er muss an das Ganze glauben, das er nicht kennt; aber er darf nicht nach eigenen Gedanken gestalten. Er muss selbst soweit Künstler sein, dass er den Plan des hohen Meisters schrittweise nachschaffen kann; aber sein oberstes Gebot ist, die „Bruchflächen“ heilig zu halten. Nur so darf er hoffen, neue Funde an ihrem richtigen Orte einfügen zu können.

Sicher gibt es auch andere Wege des Fortschritts; aber dies ist der mir durch Begabung und Neigung gewiesene.

So möchte ich hier betonen, dass ich meines Wissens nie eine „Organisatortheorie“ aufgestellt habe. Ich habe das Wort „Organisator“ geprägt, um gewisse neue, sehr merkwürdige Erscheinungen zu bezeichnen, welche mir bei meinen Experimenten entgegengetreten waren. Aber ich habe den Begriff von Anfang an als vorläufig betrachtet und wiederholt und ausdrücklich als vorläufig bezeichnet. Allen Versuchen, ihn jetzt schon zum Baustein einer Theorie zu machen, stehe ich fern. Immerhin halte ich den Begriff mit Einschränkungen noch jetzt für brauchbar. Über diese notwendig gewordenen Einschränkungen möchte ich einige Worte sagen.

Dass durch Einpflanzung eines Stückchens der oberen Urmundlippe in eine indifferente Stelle des Keims dort ein neues „Organisationszentrum“ gebildet wird, ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass im Anschluss an dieses Stück, zum Teil aus dessen eigenem Material, zum Teil aus dem Material des Wirts, eine vollständige sekundäre Embryonalanlage entsteht. Ein solches Stück einen „Organisator“ zu nennen, dürfte ebenfalls unanfechtbar sein. Dagegen könnte es schon zu Missverständnissen führen, wenn nun auch der ganze Bereich der jungen Gastrula, in welchem diese Organisatoren beisammen liegen, als Organisationszentrum bezeichnet wird. Es spielte bei dieser Konzeption von mir wohl die Anschauung herein, dass dieses primäre Organisationszentrum dem sekundären, welches durch den transplantierten Organisator hervorgerufen wird, ohne weiteres vergleichbar sei, was nicht durchaus richtig ist. Denn es fällt ja nicht jedem Teil des primären Organisationszentrums die Aufgabe zu, seine Nachbarschaft zu ihrem späteren Schicksal zu bestimmen. Auch ist die Bedeutung dieser Region als eines „Zentrums“ eine wesentlich verschiedene, je nachdem von ihr eine determinierende Wirkung, ein „Determinationsstrom“ ausgeht, oder sie nur die Zellgruppen enthält, welche nach Verpflanzung an eine andere Stelle des Keims ihre Umgebung, auch die mesodermale, organisierend sich angliedern können. Deshalb möge bis auf weiteres beim Amphibienkeim unter diesem Namen rein deskriptiv der ganze Bereich des präsumptiven Chorda-Mesodenns verstanden werden, welcher (nach H. Bautzmanns Feststellung) nach Verpflanzung in indifferentes Ektoderm oder nach Einstecken ins Blastocoel eine sekundäre Embryonalanlage zu induzieren vermag.

Die induzierende Wirkung des Organisators wurde von mir von Anfang an als eine auslösende betrachtet. Auch wurde von Anfang an die Frage aufgeworfen, welchen Anteil Aktions- und Reaktionssystem am Zustandekommen und am Charakter des Induktionsproduktes haben: Bei den zur Lösung dieser Frage unternommenen Experimenten stellte sich der Anteil des Reaktionssystems als immer grösser heraus; schliesslich als so gross, dass dadurch der Organisatorbegriff selbst problematisch wird. Wenn die verschiedensten Gewebsarten, sogar von Warmblütern, in Triton als Wirt induzieren können, wenn Gebilde von hoher morphologischer Struktur durch einfache Stoffe hervorgerufen werden, dann liegt in diesen Fällen die ganze Komplikation auf Seiten, des Reaktionssystems; dann passt aber hier auch der Begriff des Organisators nicht mehr. Ein „toter Organisator“ ist ein Widerspruch in sich selbst.

Dadurch wird aber andererseits das experimentelle Ergebnis nicht aus der Welt geschafft, dass ein Stück obere Urmundlippe sich in der seinem inneren Bau entsprechenden Richtung einstülpt, auch entgegen den Achsen des Wirts; dass es sich aus der mesodermalen Umgebung zu einem vollkommenen Achsensystem ergänzt; dass ein ins Blastocoel gestecktes und dadurch unter das Ektoderm gebrachtes Stück Urdarmdach eine Medullarplatte induziert, welche auch quer oder entgegengesetzt zur primären orientiert sein kann und sich in richtiger Ordnung und Proportion Linsen und Hörblasen angliedert. Hier hängt also die ganze Richtung und Ordnung des Geschehens von der organisatorischen Wirkung des verpflanzten Stücks Urmundlippe oder Urdarmdach ab; durch seine Lage wird bestimmt, was aus jeder von seiner Wirkung getroffenen Zelle des Reaktionssystems werden soll.

Offenbar unterscheidet sich also die Induktion durch einen Induktor ohne morphologische Struktur zum mindesten in einem wichtigen Punkt von der durch einen lebenden Organisator bewirkten; nämlich darin, dass Richtung und Art des Geschehens allein im Reaktionssystem, in seiner Struktur und in seinem sonstigen Zustand, begründet sind. Dies würde dem Verständnis keine grundsätzlichen Schwierigkeiten bereiten, wenn die sekundären Embryonalanlagen den primären immer gleich gerichtet wären und in derselben Höhe mit ihnen, also in ihrem Felde lägen. Dieses letztere scheint aber nicht immer der Fall zu sein.

Von grosser Bedeutung ist in dieser Hinsicht das schon erwähnte (vgl. S. 55) Experiment von J. Holtfreter (1934a u. b), bei welchem augenlose Linsen durch abnorme Induktoren (wie frische Leber, gekochtes Salamanderherz) hervorgerufen wurden; Induktoren also, deren Einfluss kein spezifischer sein kann. Diese Linsen lagen nun nicht in Augenhöhe, sondern in der Kiemen-Herz- oder Lebergegend, d. h. beträchtlich weiter hinten. Da also weder der induzierende Reiz noch auch eine etwaige Feldwirkung speziell auf Linsenbildung gerichtet gewesen sein kann, so wird es eine Frage von höchster Wichtigkeit, warum es gerade zu dieser Bildung kam und nicht etwa zur Entstehung einer Medullarplatte. In diesem Zusammenhang weist Holtfreter (1934 S. 367) darauf hin, dass jedenfalls in einigen seiner Fälle das Reaktionsmaterial älter war als gewöhnlich. Es hatte also vielleicht das Stadium der Bereitschaft zur Bildung von Medullarplatte schon überschritten. Ähnliche Gedanken hatte kurz vorher 0. Mangold (1933) ausgeführt. Dieselbe Vorstellung liegt auch dem oben (S. 59) zitierten, hypothetisch ausgesprochenen Satz zugrunde, dass die Epidermis in einem bestimmten Entwicklungsstadium mit der Fähigkeit, eine Linse zu bilden, gewissermassen „geladen“ sein könnte, so dass ein ganz unspezifischer Reiz wie etwa der Zug des anhaftenden, sich einkrümmenden Augenbechers zur Auslösung der Linsenbildung genügen würde (H. Spemann 1912 a, S. 90).

Im einzelnen ist diese von mir angedeutete Möglichkeit hier nicht verwirklicht. Soweit es sich um die Natur des Reizes – physikalisch oder chemisch- handelt, wiesen die Tatsachen schon damals auf eine stoffliche Wirkung hin; durch die eben angeführten Versuche von Holtfreter ist das so gut wie sicher geworden. Und was jenen Zustand des „Geladenseins“, d. h. der höchsten Reaktionsbereitschaft, anlangt, so wäre er nach Holtfreter auf einen beträchtlich früheren Zeitpunkt zu verlegen, in welchem ein Zug von selten des sich einkrümmenden Augenbechers nicht in Frage kommt. Nur die ganz allgemeine in jenem Satze enthaltene Anschauung würde durch die neuen Ergebnisse eine Stütze erhalten, dass nämlich ein Mutterboden wie das Ektoderm in fortschreitender Entwicklung Zustände durchläuft, in welchen er jeweils zur Bildung ganz bestimmter Organanlagen bereit ist, und dass in diesen einzelnen Etappen der Entwicklung Reize von unspezifischer Art genügen, um die Entstehung der Bildungen auszulösen, welche an der Reihe sind.

Der lebende Organisator würde dann zunächst nur Wirkungen ganz allgemeiner Art ausgehen lassen, etwa Strukturgefälle neu herstellen, welche die Hauptzüge der induktiven Entwicklung bestimmen. Vielleicht liesse sich das mit toten Induktoren dadurch nachahmen, dass man ihnen eine Richtungsstruktur einfachster Art verleiht; etwa indem man dem Induktor eine längliche Form gibt und ihn am einen Ende wirksamer macht, also ein Intensitätsgefälle seiner Wirksamkeit herstellt.

Wenn der Fortschritt der Forschung ein so reissend schneller ist, wie jetzt gerade auf diesem Gebiet, fällt es nicht schwer, sich zu gedulden, bis durch solche oder ähnliche Experimente schrittweise sicherer Boden gewonnen ist. So will ich denn mit dem Hinweis schliessen, dass an dieser Stelle die drängendsten Fragen der Antwort harren.

Aber eine Erklärung glaube ich dem Leser noch schuldig zu sein. Immer wieder sind Ausdrücke gebraucht worden, welche keine physikalischen, sondern psychologische Analogien bezeichnen. Dass dies geschah, soll mehr bedeuten als ein poetisches Bild. Es soll damit gesagt werden, dass die ortsgemässe Reaktion eines mit den verschiedensten Potenzen begabten Keimstückes in einem embryonalen „Feld“, sein Verhalten in einer bestimmten „Situation“, keine, gewöhnlichen, einfachen oder komplizierten chemischen Reaktionen sind. Es soll heissen, dass diese Entwicklungsprozesse, wie alle vitalen Vorgänge, mögen sie sich einst in chemische und physikalische Vorgänge auflösen, sich aus ihnen aufbauen lassen oder nicht, in der Art ihrer Verknüpfung von allem uns Bekannten mit nichts so viel Ähnlichkeit haben wie mit denjenigen vitalen Vorgängen, von welchen wir die intimste Kenntnis besitzen, den psychischen. Es soll heissen, dass wir uns, ganz abgsesehen von allen philosophischen Folgerungen, lediglich im Interesse des Fortschritts unserer konkreten, exakt zu begründenden Kenntnisse diesen Vorteil unserer Stellung zwischen den beiden Welten nicht sollten entgehen lassen. An vielen Orten dämmert diese Erkenntnis jetzt auf. Auf dem Wege zu dem neuen hohen Ziel glaube ich mit meinen Experimenten einen Schritt getan zu haben.

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Aus: Experimentelle Beiträge zu einer Theorie der Entwicklung
von Hans Spemann, Freiburg i. Br.
Deutsche Ausgabe der Stillman Lectures
gehalten an der Yale University
im Spätjahr 1933
Berlin, Verlag von Julius Springer, 1936