Das Wesentliche seiner Lehre, so hat Joseph Lister seine Entdeckung später einmal mit eigenen Worten zusammengefasst, lag darin, Mikroorganismen planmäßig von chirurgischen Wunden fernzuhalten. Das Phenol, dem er sich zu diesem Zweck bediente, war nur ein Mittel, das seinen Zielen gerecht werden konnte.
Geboren wurde Lister am 5. April 1827 in Upton (Essex) als Sohn eines reichen Weinhändlers. Schon früh erwachte in dem Knaben das Interesse für Naturwissenschaften und die Neugierde für das Verborgene. Maßgeblichen Einfluß dürfte sein Vater Jack Joseph Lister ausgeübt haben, der sich Weltruhm erwarb durch seine Entdeckung der achromatischen Linsen, mit der er wesentlich zur Vervollkommnung des Mikroskops beitrug. Schon in jungen Jahren verkündete Lister den Wunsch, Chirurg zu werden, ein Plan, der vor jeglicher Antisepsis und Anästhesie bei seinem Vater auf keine Billigung stiess. Vielmehr bestand dieser darauf, dass Joseph Lister zunächst seinen Bachelor of Arts machte.
Während seines Medizinstudiums wurde er von Anfang an maßgeblich von seinem Physiologieprofessor William Sharpey beeinflusst. Bezeichnend für Lister ist, dass er bereits als Student Mitteilungen über das »Krankenhausgangrän« veröffentlichte. Doch sollten bis zu seinen ersten Versuchen über die Antisepsis, in denen er Mikroorganismen als verursachendes Agens postulierte, noch dreizehn weitere Jahre vergehen.
Nach seinem glänzenden Staatsexamen 1852 war es Sharpey, der dem finanziell unabhängigen Lister dazu riet, einen Monat bei dem inzwischen weltberühmten Chirurgen James Syme in Edinburgh und anschließend einige Monate auf Schulen des Festlandes zu verbringen. Doch schon bald entstand zwischen dem jungen Lister und James Syme, Listers späterem Schwiegervater, eine solch enge Zuneigung, daß dieser seinem jungen Schüler einen ständigen Posten als Chirurg im Edinburgher Krankenhaus anbot. Einige Jahre später, 1859, entschloss sich Lister, der einerseits seinen Schwiegervater Syme nicht verlassen wollte, andererseits auf einen Lehrstuhl in London hoffte, schweren Herzens, eine freigewordene Professur für Chirurgie in Glasgow anzunehmen. Aus zahlreichen Briefen an seinen Vater, seinem engsten Vertrauten, wissen wir, dass Lister sehr daran zweifelte, dass er bei den Studenten ankommen würde. Dies sollte sich jedoch als völlig unberechtigt herausstellen, denn in kürzester Zeit hatte er den größten Hörerkreis im Königreich um sich versammelt. Größte Sorgen bereitete ihm jedoch die erschreckende und stets anwachsende Sterblichkeit in der chirurgischen Abteilung seines Krankenhauses, das unter der Leitung des auf äußerste Sparsamkeit bedachten Verwaltungsrates stand. Listers Bemühungen um ein Mindestmaß an Sauberkeit, was zwangsläufig Kosten nach sich ziehen musste, stießen auf starken Widerstand. Doch trotz Sauberkeit griff die Sepsis, von jeher die größte Gefahr in der Chirurgie, so um sich, dass man gemeinhin sagte, wer sich einer Operation unterzöge, sei größeren Gefahren ausgesetzt als auf dem Schlachtfeld. Durch das Mikroskopieren war Lister mit allen Phasen des Entzündungsvorganges wohlvertraut, obgleich ihm die Ursachen dieses Phänomens, das bei dem einen zum Tode führte, bei dem anderen jedoch nicht, ein vollständiges Rätsel blieben.
Entscheidende Impulse erhielt er 1865 durch die Arbeiten von Louis Pasteur, auf die er durch den Glasgower Chemieprofessor Thomas Anderson gestoßen wurde. Gärung und Fäulnis, so hatte Pasteur bewiesen, wurden durch mikroskopisch kleine Lebewesen verursacht. Lister, dem sogleich der Gedanke kam, daß Wundeiterungen ähnliche Ursachen haben könnten, erinnerte sich daran, dass Carlisle reines Phenol erfolgreich zur chemischen Reinigung von Abwässern eingesetzt hatte. Darauf beschloss er, dieses Mittel auszuprobieren.
Erinnert sei daran, dass viele Jahre vor Aufstellung der »Theorie der Erkrankungen durch Infektionskeime« Phenol erstmals erfolgreich von Lister bei einem offenen Beinbruch zur Anwendung kam. Doch erst nachdem er diese Methode zwei Jahre lang erfolgreich angewendet hatte, erschien von ihm 1867 erstmals in der Zeitschrift Lancet ein Artikel. Als er im gleichen Jahre vor der Jahresversammlung der Britischen Ärzteschaft eine Mitteilung über „Das Prinzip der Antisepsis“ vortrug, stieß seine Meinung in manchen Kreisen auf stürmischen Widerstand und manche Chirurgen zögerten nicht, Listers Gedanken ins Lächerliche zu ziehen.
Lange dauerte es, bis sich Listers Lehre endgültig durchsetzen konnte, nicht. Zuletzt, weil das von ihm gepriesene Phenol von anderen Chirurgen leider oft kritiklos und planlos eingesetzt worden war, wodurch Mißerfolge nicht ausbleiben konnten. Nicht vergessen werden sollten neben der Entdeckung der Antiseptik andere wichtige Erfindungen Listers. So konstruierte er einen Zerstäuber zur Luftdesinfektion in Operationssälen, entwickelte, nachdem er durch seine mikroskopischen Studien die Unzulänglichkeit von Seide und Faden als Nahtmaterial erkannt hatte, den auch heute noch üblichen Catgutfaden und bewies den Nutzen von medizinischer Gaze. Auch geht die Einführung von Drainagen bei frischen Wunden auf ihn zurück. Bezeichnend für Listers Selbstvertrauen ist die Tatsache, dass er letztere Methode an keiner geringeren als an der Königin Viktoria anwandte. Leider gelang es Lister nicht vor 1874, die Aufmerksamkeit Pasteurs, von dem er die entscheidenden Denkanstöße erhalten hatte, auf die antiseptische Chirurgie zu lenken. Für die Größe und den Edelmut beider Männer spricht die wohl außergewöhnlich herzliche Freundschaft, die zwischen diesen beiden großen Forscherpersönlichkeiten entstand.
1877 erreichte Listers Triumpf mit der Übernahme des Lehrstuhles für klinische Chirurgie am Kings College in London seinen Höhepunkt. Schon im darauffolgenden Jahr sollte sich die Lehre von der Antisepsis siegreich in der ganzen Welt verbreiten. Vierzehn Jahre später – 1893 – wurde Joseph Lister als erster Arzt in der Geschichte in den Lordstand erhoben. Er starb am 10. Februar 1912 in Walmer in der Grafschaft Kent.