Karl Wilhelm von Nägeli wurde am 27. März 1817 in Kilchberg, Schweiz, geboren. Er studierte in Zürich und wirkte da auch als Lehrer.
Einer seiner Schüler, der spätere Professor Schwendener, charakterisierte seinen Lehrer folgendermassen: „In Nägelis Schriften machen sich drei Züge hauptsächlich bemerkbar. Erstens ein streng mathematischer Zug, er strebt, die Dinge nach Zahl und Mass sowie nach Lage im Raum zu erforschen. Zweitens ist die logische Schärfe bezeichnend; gibt man die Prämisse zu, sind die Folgerungen umabweisbar. Drittens finden wir einen Naturphilosophischen Zug, ein Streben, die Gedanken zu Ende zu führen und erst dort aufzuhören, wo der menschlichen Erkenntnis überhaupt Grenzen gesetzt sind, vor dem Unendlichen, dem Absoluten.“ (zitiert nach Grosse Biologen, von Ernst Almquist, München 1931)
Carl v. Nägeli gehörte zu den bedeutenden Botanikern des 19. Jahrhunderts. Seine Schaffensperiode fiel in eine Zeit, in der sich in der Biologie entscheidende und tiefgreifende Veränderungen vollzogen. Schleiden und Schwann erbrachten den Nachweis, dass sich alle Organismen aus Zellen aufbauen und entwickeln. Darwin versuchte, die Deszendenztheorie wissenschaftlich zu begründen.
Diese grossen Entdeckungen ermöglichten es, viele Vorgänge in der Natur zu erklären und auf natürliche Ursachen zurückzuführen. Die Weiterentwicklung mikroskopischer, biochemischer und biophysikalischer Untersuchungsmethoden führte zu neuen Einsichten in die anatomische Struktur und die physiologischen Funktionen von Zelle und Gewebe. Naturphilosophisch-spekulative Ansichten verloren zunehmend an Boden. Nägeli, der bei berühmten Botanikern und Zoologen seiner Zeit, wie Oken, de Candolle und Schleiden, studiert bzw. in deren Laboratorien gearbeitet hatte, versuchte durch vielseitige und umfangreiche Forschungen einen Beitrag zur Herausbildung der Biologie als selbständige wissenschaftliche Disziplin zu leisten.
1817 | am 26. März in Kilchberg bei Zürich geboren |
1836 | Medizinstudium in Zürich |
1840 | Promotion bei A. P. De Candolle in Genf |
1840 | Forschungsarbeiten im Laboratorium von M. Schleiden |
1843 | Habilitation in Zürich |
1849 | Berufung zum ausserordentlichen Professor an die Universität Zürich |
1852 | Lehrstuhl für Botanik an der Universität Freiburg im Breisgau |
1856 | Professor für Allgemeine Botanik am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich |
1857 | Berufung zum ordentlichen Professor für Allgemeine Botanik an die Universität München |
1889 | Emeritierung |
1891 | am 10. Mai in München gestorben |
Nägeli wurde vor allem berühmt für seine Arbeit mit Pflanzenzellen. Im Alter von 25 Jahren schrieb er eine Arbeit über die Bildung von Pollen durch Samen sowie Blütenpflanzen und beschrieb die Zellteilung mit grosser Genauigkeit. Er beschrieb transitorische Zytoblasten, die später als Chromosomen identifiziert wurden. Er beobachtete ebenfalls die Zellteilung und untersuchte den Prozess der Osmose in einzelligen Algen. Nägeli führte das Konzept bestimmter Gruppen von Pflanzenzellen, die immer in der Lage sind, sich zu teilen, in die Botanik ein. Das führte ihn zur ersten genauen Zählung von apikalen Zellen. Weiterhin formulierte er ein Konzept, das zur Grundlage für das Verständnis der Struktur von Getreide wurde. Nägeli und Hugo von Mohl waren die ersten Botaniker, die die Wand der Pflanzenzelle von deren inneren Inhalten unterschieden.
1849 wurde er zum ausserordentlichen Professor an die Universität Zürich berufen. 1852 übernahm er den Lehrstuhl für Botanik in Freiburg im Breisgau. Danach erfolgte 1856 die Ernennung zum ordentlichen Professor für Allgemeine Botanik am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich. Nägelis wichtigste Arbeiten entstanden, nachdem er 1857 an die Universität München berufen wurde, wo er bis zu seinem Tode 1891 wirkte.
Botanik und Mikroskopie
Nägelis Untersuchungen auf dem Gebiet der Pflanzensystematik zeichnen sich durch das Bemühen aus, biosystematische, anatomisch-morphologische und physiologische Faktoren in ihrer Einheit und Wechselbeziehung zu betrachten. Er beschrieb erstmalig Bau und Funktion der Spermatozoide bei niederen Algen und untersuchte die Bedeutung niederer Pilze für die Entstehung von Infektionskrankheiten (Nägeli, 1841, 1877, 1882). Zum bleibenden wissenschaftlichen Bestand der Botanik wurde die mit A. Peter gemeinsam verfasste Monographie „Die Hieracien Mitteleuropas“ (1885 bis 1889). Besonders intensiv beschäftigte sich Nägeli mit zellanatomischen und zellphysiologischen Problemstellungen. Einen guten Einblick in die Vielfalt diesbezüglicher Untersuchungen bietet das mit Schwendener erarbeitete Werk „Das Mikroskop. Theorie und Anwendung desselben“ (1865). Es stellte neben dem „Handbuch der Mikroskopie“ die erste vertiefte und umfassende Darstellung der Polarisationsoptik und ihre Anwendung auf pflanzliche Objekte dar. Ausgehend von Beobachtungen an Stärkekörnern versuchte Nägeli eine Micellartheorie zu begründen. Die Einführung des Begriffs „Micell“ erschien ihm notwendig, um das Verhalten biologischer Elementareinheiten gegenüber dem anorganischer Kristalle deutlicher hervorheben und abgrenzen zu können. Ein Micell sollte nach seinen Untersuchungen und Berechnungen aus einer bestimmten, kristallähnlichen Molekülverkettung bestehen, die je nach ihrer chemischen Konstitution und räumlichen Anordnung entsprechende Strukturen und Funktionen in der Zeile bedinge (Nägeli, 1858, 1862). Obwohl diese Hypothese vor allem durch die Anschauungen Bütschlis verdrängt und in der weiteren Forschung kaum aufgegriffen wurde, regte sie dennoch die Analyse organischer Strukturen massgeblich an. Nägeli war bemüht, das in der damaligen Zeit heftig umstrittene Problem der Urzeugung einer naturwissenschaftlichen Interpretation zuzuführen. Für ihn bestand kein Zweifel an einer spontanen Eiweissbildung als Grundlage für die Entstehung der ersten Lebewesen. Diese sollten sich aber von allen bekannten Organismen durch ihre äusserst geringe Grösse und die erst am Anfang stehende „Micellarkonstitution“ unterscheiden. Die Annahme besonderer Lebenskräfte wurde von ihm grundsätzlich abgelehnt, da „die Urzeugung der Plasmamassen und ihr weiteres Wachstum das Produkt der dem Eiweissmolekül anhaftenden Eigenschaften (sei)“ (Nägeli, 1884, S.98). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Nägeli erstmals die Frage aufwarf, ob die ersten Organismen unbedingt Chlorophyll enthalten müssten. Nach seinen Überlegungen konnten es auch farblose Lebewesen gewesen sein, wenn diesen in der damaligen Umwelt ausreichend Eiweissstoffe zur Verfügung standen. Eine geniale Vermutung, welche durch die moderne Wissenschaft bestätigt wurde. Da Nägeli von der Vorstellung ausging, dass sich auf der Erde mehrmals und zu verschiedenen Zeiten Leben entwickelte, vertrat er mit Nachdruck die Auffassung, dass alle rezenten Organismen polyphyletischen Ursprungs seien. Diese Haltung fand ihren Niederschlag in den von ihm entworfenen stammesgeschichtlichen Konzeptionen.
Genetik und Zytologie
In die Genetik und Zytologie wurde von Nägeli der Begriff „Idioplasma“ eingeführt. Auf Grund langjähriger Beobachtungen gelangte er zu der bedeutsamen Erkenntnis, dass „bei der Fortpflanzung des Organismus die Gesamtheit seiner Eigenschaften als Idioplasma (vererbt) wird“ (Nägeli, 1884, S.24). Obwohl er des weiteren die berechtigte Meinung äusserte, dass in der Keimzelle die Merkmale als Anlagen eingeschlossen seien, blieben seine Anschauungen insgesamt dazu recht spekulativ und haben den weiteren Erkenntnisfortschritt eher gehemmt als gefördert. Nägeli konnte wohl als erster die Teilung des Zellkerns beobachten. Dabei sah er auch die Chromosomen, bezeichnete sie als „transitorische Zytoblasten“, erkannte aber noch nicht ihre Funktion.1866 schickte Mendel an Nägeli einen der 40 Sonderdrucke seiner „Versuche über Pflanzen-Hybriden“. Im Begleitbrief hatte Mendel erwähnt, dass er auch Bastardierungsversuche mit Hieracien (Habichtskräutern) durchgeführt habe, einer Pflanzengruppe welche Nägeli besonders gut kannte. Doch Nägeli erkannte die grosse Bedeutung von Mendels Kreuzungsexperimenten nicht, wohl vor allem, weil sie seinen eigenen Theorien widersprachen. Er hielt er an der Vorstellung fest, wonach das Idioplasma Micellarstränge bilde, welche sich in Analogie zum Nervensystem im gesamten Organismus ausbreiten sollten. Nägeli war neben den Botanikern K. v. Marilaun, H. Hoffmann und Focke am genauesten über die Ergebnisse und den Fortgang der Mendelschen Arbeiten unterrichtet, und es ist viel darüber geschrieben worden, warum er diese entscheidenden Entdeckungen nicht zu würdigen verstand. Ein wichtiger Grund dafür scheint auch darin zu bestehen, dass Nägeli den Wert der Untersuchungen von Praktikern äusserst gering einschätzte. Die Praktiker, so meinte er, verliessen sich angeblich auf die Erfahrung und setzten für diese oder jene Unbekannte einen Wert ein, ohne dessen Richtigkeit zu überprüfen. Diese Prüfung geschehe nach seiner Auffassung nur „durch den wissenschaftlichen Versuch, der mit dem sogenannten Versuch der Praktiker nichts gemein hat …“ (Nägeli, 1877, S. 561).
Evolutionsbiologie
In dem Werk „Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre“ (1884) legte Nägeli seine evolutionsbiologischen Ansichten nieder. Diese haben bis in unsere Zeit eine recht unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Wertung erfahren. So vertritt Rensch die Auffassung, dass sich Nägeli durch die Annahme eines inneren Vervollkommnungstriebes vom Darwinismus abwandte. Für Asimov dagegen war Nägeli ein „begeisterter Anhänger des Darwinismus“ (Asimov, 1969, S. 68), Krafft und Mayer-Abich sind demgegenüber der Meinung, dass die besagte Arbeit als „der erste grossangelegte und wohl gelungene Versuch angesehen werden muss, die theoretischen Fundamente der Abstammungslehre klar und sicher zu legen“ (Krafft, Meyer-Abich, 1970, S. 234f.). Obwohl Nägeli 1836 bei Oken seine naturwissenschaftlichen Studien begann, konnte er sich dennoch mit dessen „willkürlich schematischen“ Ausführungen nicht anfreunden. „Überhaupt“, schreibt Nägeli rückblickend, „versagte mir ein strenger Realismus, welcher eine Verallgemeinerung nur dann begreift, wenn sie an concreten Beispielen klargemacht werden konnte, jedes Verständnis für metaphysische Dinge“ (Nägeli, 1877, S. 556). Den einzigen Massstab für eine Wissenschaft sah er in der auf Physik (Mechanik), Chemie und Mathematik begründeten Methode und Interpretation, wobei es ihm besonders darauf ankam, dass „Wahrnehmungen und Facta eine um so grössere Bedeutung (gewinnen), je mehr eine sorgfältige Kritik alle Fehler der Beobachtung und Beurteilung eliminiert und je allgemeiner die resultierenden Gesetze sind“ (Nägeli, 1853, S. 1). Da dieses Ziel die „Naturphilosophie“ verhindere, habe sie „viele der besten Kräfte für den Fortschritt der Wissenschaft unbrauchbar gemacht“. Auch die Ansicht, Nägeli habe die Anschauungen Hegels „materialistisch umgedeutet“ oder er wäre überhaupt Hegelianer gewesen (Vorwurf Schleidens), kann nicht bestätigt werden. Er selbst spricht in diesem Zusammenhang von einem „grossen Irrtum der Wanderjahre“, absolute Begriffe und die damit verbundene absolute Unterschiedlichkeit in der Natur angenommen zu haben. Der Besuch eines Collegs in Berlin über Hegelsche Philosophie wäre „ein ganz fruchtloses Bemühen gewesen“ (Nägeli, 1877, S. 556). Seinen metaphysisch-materialistischen Standpunkt brachte er nicht nur in seinem bekannten Vortrag: „Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis (1877)“ zum Ausdruck, sondern vertrat ihn auch hartnäckig hinsichtlich evolutionsbiologischer Problemstellungen. Im Gegensatz zur Darwinschen Selektionstheorie bezeichnete er seine diesbezüglichen Vorstellungen als „Theorie der direkten Bewirkung“. Obwohl von ihm schon 1856 der Gedanke einer natürlichen Artumwandlung geäussert wurde, war für ihn eine derartige wie jede andere Naturbeobachtung erst dann wissenschaftlich erklärt, wenn dabei Prinzipien der Mechanik zur Anwendung kamen. Ursächliches Erkennen war für ihn ein mechanistisches Prinzip, „weil jede natürliche Erscheinung durch Bewegung zu Stande kommt und weil die Mechanik die Bewegungen bestimmt, welche unter dem Einfluss von Kräften erfolgen“ (Nägeli, 1884, S. 9). Diesen einseitigen, undialektischen Standpunkt versuchte er auf alle Fragestellungen der Evolutionstheorie und Abstammungslehre anzuwenden, da aus seiner Sicht, entsprechende Zusammenhänge „im Gegensatz zur Schöpfungslehre als allgemeine Wahrheit selbst auf dem allgemeinsten mechanischen Prinzip, auf dem Causalgesetz oder dem Gesetz der Erhaltung von Kraft und Stoff (beruhen)“ (Nägeli, 1884, S. 9). Mit besonderem Nachdruck wurde von ihm gefordert, jede Erscheinung als notwendig zu begründen, wobei sich für ihn die Notwendigkeit als unvermittelter Gegensatz zur Zufälligkeit ergab. Das Unvermögen Nägelis, die Dialektik von Zufall und Notwendigkeit zu begreifen, stellte letzten Endes den weltanschaulichen Ausgangspunkt in der erwähnten naturwissenschaftlichen Kontroverse dar. So warf er der „Darwinschen Schule“ vor, sie verfahre bei der Analyse der Entstehung und Entwicklung von Arten willkürlich und gehe insgesamt von unbestimmten Ursachen und unbestimmten Wirkungen aus. Die Entscheidung der natürlichen Zuchtwahl sei überwiegend dem Zufall überlassen. „Es ist dies der Zufall“, schreibt Nägeli, „welcher von der Wahrscheinlichkeitsrechnung zum Objekt ihrer Untersuchungen gemacht wird – und dieser Zufälligkeit gestattet die Selectionstheorie einen allzu grossen Spielraum“ (Nägeli, 1884, S. 293). Da es seinem mechanistischen Kausalverständnis widersprach, „richtungslose“ und in den Individuen einer Art ungleiche erbliche Änderungen zu akzeptieren, ging er von der Behauptung aus, dass die dem jeweiligen Idioplasma als Substanz innewohnenden „Kräfte“ zu gleichartigen Veränderungen führen. Nach seiner „Theorie der direkten Bewirkung“ habe die Selektion weder Einfluss auf die Entstehung noch auf die Richtung der Artumwandlung. Er vermutete, dass eine innere Kraft, ein Vervollkommnungstrieb, die Richtung der Veränderung bestimme, so dass die von Darwin postulierte Selektion überflüssig wurde. Damit näherte sich Nägeli den idealistischen Ansichten des Neolamarckismus. Da er des weiteren von der Vorstellung ausging, dass die Urzeugung von Leben nicht nur mehrfach erfolgte, sondern auch bis in die Gegenwart andauere, gelangte er zu recht spekulativen Aussagen über die stammesgeschichtlichen Beziehungen im Pflanzenreich. So widersprach er der Tatsache, dass die einfacheren Formen erdgeschichtlich alter sein sollten als die komplizierteren. Abgelehnt wurde von ihm ebenfalls, dass zwischen den „phylogenetischen Linien“ eine Gemeinsamkeit der Blutsverwandtschaft und damit der Abstammung bestände. Die entscheidende Ursache für den unterschiedlichen Entwicklungsstand einzelner Sippen und die Tatsache, dass viele von ihnen ausgestorben sind, wurde von Nägeli in den „autonomen Bildungsbereich“ des Idioplasmas verlagert. Hier sollten sich teils raschere, teils langsamere Veränderungen vollzogen haben. Aus diesem Grunde lehnte er auch die Auffassung, wonach die Migration ein wichtiger Evolutionsfaktor sei, prinzipiell ab und ersetzte ihn durch den völlig vagen Begriff der „Beharrung“. Nägelis Bemühen, die in der damaligen Biologie zur Diskussion stehenden Probleme auf der Grundlage des mechanischen Materialismus zu lösen, stellte eine Sackgasse in der Erkenntnisgewinnung dar, weshalb auch sein gross angelegter Versuch, eine „mechanisch-physiologische“ Theorie der Abstammungslehre zu begründen, scheitern musste.