Universalgenie: Künstler, Techniker und Naturwissenschaftler
Von allen grossen Denker der Renaissance entspricht Leonardo da Vinci wahrscheinlich am meisten dem Ideal des universellen Menschen. Er war ebenso in den Naturwissenschaften wie in Kunst und Philosophie bewandert und aktiv. Er war einer der erfinderischsten und begabtesten Geister, die es je gegeben hat, aber sein tatsächlicher Einfluss auf den Fortschritt von Wissenschaft und Technik war eher gering.
Leonardo unternahm keinen Versuch, um seine Erkenntnisse oder Erfindungen zu veröffentlichen. Als er starb, gingen seine zahlreichen Unterlagen in den Besitz eines Lieblingsschülers über. Mit der Zeit wurden die Papiere auseinandergerissen, sie wanderten in private Bibliotheken und Sammlungen – man verlor sie aus den Augen. Daher blieben sie mehrere Jahrhunderte lang unbekannt und Leonardos technologische Begabung mehr prophetischer als praktischer Natur.
Am 15. April 1452 wurde Leonardo da Vinci in Anchiano, einem Dorf in der Nähe der kleinen Stadt Vinci, geboren. Sein Vater, Ser Piero, war ein erfolgreicher Notar; seine Mutter ein Bauernmädchen Namens Caterina. Leonardos frühe Kinderjahre waren von getrennt lebenden Eltern sowie von einer Stiefmutter geprägt. Als unehelicher Sohn wuchs er in der väterlichen Familie auf.
Leonardo besuchte lediglich die wenigen Klassen der Grundschule des Dorfes und erlernte nur mit Mühe Lesen, Schreiben und Rechnen. Er liebte das Landleben und begleitete seinen Onkel Francesco bei dessen Streifzügen durch das Land. Francesco war Leonardos Vorbild und erzog ihn zur Liebe zur Natur und zu den Tieren.
Da Leonardo ein unehelicher Sohn von Ser Piero war, konnte er weder den Beruf seines Vaters noch einen anderen höhergestellten Beruf erlernen. Unehelichen Kindern war damals – sofern es sich nicht um solche aus adeligen oder einflussreichen mächtigen Familien handelte, der Zugang zur Universität versperrt. So wurde Leonardo nicht einmal in der lateinischen Sprache unterwiesen, die zu jener Zeit die unabdingbare Basis jeder guten schulischen Ausbildung war. Leonardo sollte sein Leben lang unter seinen mangelnden Lateinkenntnissen leiden.
Bereits als Knabe legte er eine auffallende künstlerische Begabung an den Tag, was seinem Vater nicht verborgen blieb. Um seine Zeichenkenntnisse zu verbessern, beobachtete der Junge mit hartnäckiger Ausdauer und grösster Sorgfalt die Vielfalt der Natur. In dieser bis ins kleinste Detail gehenden Beobachtungsgabe mag eine der Quellen für die besondere Verquickung von Kunst und Wissenschaft liegen, die sich in Leonardos Geist vollzog.
Seinen ersten künstlerischen Auftrag erhielt Leonardo von seinem Vater Ser Piero. Es handelte sich um einen Rundschild, der als Wanddekoration bemalt werden sollte. Leonardo sammelte in seinem Zimmer Eidechsen, Grillen, Schlangen, Heuschrecken, Nachtfalter und Fledermäuse an. Der Gestank dieser Tierkadaver schien den Knaben nicht gestört zu haben und erinnert an sein späteres Verhalten während seinen anatomischen Untersuchungen, wo er ebenfalls Leichen und Blut gegenüber keine Empfindung zeigte.
1469 übersiedelte Leonardo mit seinem Vater nach Florenz. Ser Piero, der die künstlerische Begabung seines Sohnes fördern wollte, legte Leonardos Zeichnungen Andrea del Verrocchio, einem angesehenen Maler und Bildhauer der Stadt, vor. Dieser nahm den Jungen in seine Werkstatt auf, in der Leonardo zwölf Jahre seines Lebens zubringen sollte.
Lorenzo de‘ Medici, der Verrocchio sehr schätzte, erteilte diesem zahlreiche Aufträge, sodass dessen Werkstatt im Laufe der Zeit zu einer der erfolgreichsten von ganz Florenz wurde. Leonardo musste sich bescheiden der Disziplin und dem Geist seines Lehrmeisters unterordnen, der ihm auf traditionelle Weise das beizubringen beabsichtigte, was man allgemein als „mechanische Künste“ bezeichnete, also Zeichnen, Kolorieren sowie das Mischen der Farben und die Vorbereitung zum Guss.
Die Schüler, die auch Theorie der Mathematik, Geometrie und Anatomie lernten, wurden vorwiegend in der Tradition der Handwerker erzogen. Aufgrund ihrer Unkenntnis des Lateinischen und der philosophischen Literatur hatten sie keinen Zugang zum Kreis der Gelehrten.
Aufgrund seiner ausserordentlichen künstlerischen Begabung wurde Leonardo bald, neben Lorenzo di Credi und Pietro Perugino, einer von Verrocchios Lieblingsschülern. Der Meister vertraute ihm immer verantwortungsvollere Aufgaben an. Dazu zählte zum Beispiel die Ausführung des Engels aus der Taufe Christi. Man erzählt sich, dass Verrocchio aufgehört haben soll zu malen, als er den Engel von Leonardo gesehen hatte.
Leonardos Laufbahn als Maler war glänzend, obwohl er nur relativ weniger Bilder vollendete. Manchmal litt seine Arbeit unter seiner Leidenschaft für technische Experimente. Als er z.B. damit beauftragt wurde, das Fresko Das Abendmahl für die Kirche Santa Maria delle Grazie in Mailand zu malen, versuchte er es mit Öl auf Mörtel – das Ergebnis war verheerend. Die Arbeit wies bereits zu Leonardos Lebzeiten erhebliche Zerstörungen auf und musste oftmals restauriert und repariert werden.
Leonardo da Vinci war der erste Künstler, der den menschlichen Körper seziert hat und der aufgrund dieser Ergebnisse ein neues und wirklichkeitsnahes Bild vom Menschen entstehen liess. Ab dem Jahr 1510 nahm er seine vor mehr als 20 Jahren begonnenen anatomischen Studien wieder auf. Sein Eifer wurde beeinflusst durch die Bekanntschaft mit Marcantonio della Torre im Jahr 1509, jenem Doktor der Medizin, der an der Universität von Pisa lehrte und sich dem „Studium der Leichen“ mit besonderem Eifer widmete.
Die „Notomia“, wie Leonardo die Anatomie bezeichnete, war einschränkenden Gesetzen unterworfen. Die Anzahl der Leichen, die den Forschern zur Verfügung gestellt wurden, war aufgrund dieser Vorschriften äusserst begrenzt. Die Sektion, heute eine zur Selbstverständlichkeit gewordene Vorgangsweise medizinischer Forschung, wurde damals von der Geistlichkeit noch scharf verurteilt. Der finstere Aberglaube jener Zeit führte dazu, dass die Studenten selbst Untersuchungen ablehnten und zu verhindern suchten. Erst zur Zeit von Descartes im 17. Jahr-hundert wurde die Praxis der Sektion geduldet.
Leonardo soll 1515, zu einer Zeit, in der das Sezieren von Menschen durch päpstliche Anordnungen verboten war, die Anatomie von über 30 Männer – und Frauenleichen jeden Alters untersucht haben. Das Ziel seiner Forschungen war nicht nur anatomisch, sondern auch physiologisch und morphologisch.
Beschränkten sich Leonardos anatomische Studien bisher vorwiegend auf die Erforschung der Bauweise und der Mechanik des menschlichen Körpers sowie der Funktion einzelner Teile, so wurde er durch Marcantonio dazu inspiriert, seine Untersuchungen auch auf Tiere auszudehnen und auf diese Weise vergleichende Überlegungen anzustellen. Ebenso sollte die Entwicklung einzelner Organe sowie des ganzen Körpers vom Fötus bis zum Erwachsenen erforscht werden. Leonardo machte sich mit fast fieberhafter Begeisterung an die Zergliederung von Leichen, vorwiegend die von Verbrechern, wobei er sich weder durch den schrecklichen Anblick „dieser aufgeschlitzten und zerfetzten … Leichname“ während der nächtlichen Sektion bei Kerzenlicht, noch durch die erhebliche Infektionsgefahr abschrecken liess.
Leonardo entdeckte in der Zergliederung eines menschlichen Körpers erst die wahre Schönheit dieses Wunderwerks der Schöpfung. Noch im Alter von 60 Jahren besuchte er nachts den Friedhof von Mailand. Heimlich zersägte Leonardo Knochen und Schädel und häutete die Leichen, um die Nerven und das Muskelsystem zu studieren.
„Lass dich durch die Angst vor einer Nacht in Gesellschaft dieser schaurig anzusehenden toten, zerstückelten und gehäuteten Körper nicht abschrecken“, rät er einem imaginären Studenten, der sich an einer Leichenöffnung beteiligen möchte. Leonardo hielt fest, dass der Verwesungsprozess der Leichname sehr rasch einsetzte und dass er mehr Zeit gebraucht hätte um sie zu untersuchen und zu zeichnen. Ebenso vermerkte er, dass manchmal mehrere Körper nötig waren, um „die Unterschiede zu entdecken“.
Um alle Einzelheiten besser illustrieren zu können, entwickelte Leonardo eine einzigartige Zeichentechnik, bei der er jeden Teil, jedes Organ, jeden Knochen und jeden Muskeln plastisch, also unter verschiedenen Blickwinkeln, wiedergab. Leonardo konzentrierte sich vor allem auf das Studium und die Darstellung der Muskeln, indem er sich besonders mit der Oberflächenmuskulatur befasste. Er wusste um deren besonders wichtige Rolle bei der Festlegung der äusseren Körperformen und beim Ausdruck der Gefühle. Physiologisch gesehen, erfasste Leonardo die allgemeinen Gesetze der Muskel-mechanik in ihrer Beziehung zwischen Knochen und Gelenken.
Im Rahmen seiner Forschungen entstand auf mehr als 200 Blättern eine anatomische Darstellung des menschlichen Körpers von unglaublicher plastischer Eindringlichkeit und wissenschaftlicher Exaktheit, wie sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von niemandem wieder erreicht wurde.
Leonardo stand von 1483 bis 1499 im Dienst des Herzogs von Mailand. Als die Stadt von Frankreich erobert wurde, kehrte er nach Florenz zurück, wo er als Militäringenieur für Cesare Borgia arbeitete. 1507 nahm er ein Angebot des französischen Königs Franz I. an und verlegte seinen Wohnsitz in die Burg von Cloux in der Nähe von Amboise, die ihm der französische König geschenkt hatte. Dort lebte er bis zu seinem Tode und befasste sich ausschliesslich mit wissenschaftlichen Untersuchungen.
Viele von Leonardos mechanischen Entwürfen waren nicht anwendbar. Andere konnten erst funktionieren, als eine Kraftquelle, z.B. eine Dampfmaschine, zur Verfügung stand.
Gegen Ende seines Lebens war Leonardo immer mehr davon überzeugt, dass eine Sintflut die Menschheit mit all ihren Eitelkeiten und Gebrechen schliesslich verschlingen würde.