Oskar Hertwig (1849 – 1922)

HertwigDeutscher Anatom und Zellforscher

Er vermutete im Zellkern die Erbinformation

Textstelle von Ernst Haeckels Weltenräthsel, Viertes Kapitel: Unsere Keimesgeschichte

Die feineren Vorgänge bei der Empfängniß und der geschlechtlichen Zeugung überhaupt sind daher von allerhöchster Wichtigkeit; sie sind uns in ihren Einzelheiten erst sei 1875 bekannt geworden, seit Oscar Hertwig, mein damaliger Schüler und Reisebegleiter, in Ajaccio auf Corsica seine bahnbrechenden Untersuchungen über die Befruchtung der Thier-Eier an den Seeigeln begann. Die schöne Hauptstadt der Rosmarin-Insel, in welcher der große Napoleon 1769 geboren wurde, war auch der Ort, an welchem zuerst die Geheimnisse der thierischen Empfängniß in den wichtigen Einzelheiten genau beobachtet wurden.

Hertwig fand, daß das einzige wesentliche Ereigniß bei der Befruchtung die Verschmelzung der beiden Geschlechtszellen und ihrer Kerne ist. Von den Millionen männlicher Geißelzellen, welche die weibliche Eizelle umschwärmen, dringt nur eine einzige in deren Plasmakörper ein. Die Kerne beider Zellen, der Spermakern und der Eikern, werden durch eine geheimnißvolle Kraft, die wir als eine chemische, dem Geruch verwandte Sinnesthätigkeitdeuten, zu einander hingezogen, nähern sich und verschmelzen mit einander. So entsteht durch die sinnliche Empfindung der beiden Geschlechts-Kerne, in Folge von „erotischem Chemotropismus„, eine neue Zelle, welche die erblichen Eigenschaften beider Eltern in sich vereinigt; der Sperma-Kern überträgt die väterlichen, der Eikern die mütterlichen Charakterzüge auf die Stammzelle, aus der die nun das Kind entwickelt; das gilt ebenso von den körperlichen, wie von den sogenannten geistigen Eigenschaften.

Hertwig forschte als Professor in Jena und Berlin auf dem Gebiet der Fortpflanzung. Die zu seiner Zeit schon länger vermuteten Befruchtungsvorgänge konnte er als Erster an einem Seeigelei beobachten (1875). Nach Untersuchungen über die Chromosomenreduktion an der reifenden Geschlechtszelle gelangte er 1884 mit anderen Mitarbeitern zu der Erkenntnis, dass der Zellkern Träger der Erbinformation ist. Mit seinem Bruder Richard stellte er die Keimblättertheorie auf. Hertwig starb am 25. Oktober 1922 in Berlin.

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Am 21. April 1849 wurde Oskar Hertwig zu Friedberg in Hessen geboren. Aber schon frühzeitig siedelten seine Eltern nach Mühlhausen in Thüringen über, so dass er dort den größten Teil seiner Kindheit und Jugend verlebte. Zu seinem 1½ Jahre jüngeren Bruder, dem Zoologen Richard Hertwig stand er bis zu seinem Tod in sehr enger persönlicher und wissenschaftlicher Beziehung. Beide Brüder besuchten die Universitäten Jena, Zürich und Bonn. In Jena war seit 1862 Ernst Haeckel Professor für Zoologie, einer der letzten Schüler des bedeutenden Anatomen und Physiologen Johannes Peter Müller in Berlin. An der Berliner Medizinischen Fakultät promovierte er 1857. Haeckel wurde einer der frühesten Anhänger und Verbreiter der Lehren Darwins. Oskar Hertwig gilt als Schüler Haeckels. Im August 1872 erwarb er die Doktorwürde mit der Arbeit über die „Entwicklung und den Bau des elastischen Gewebes im Netzknorpel“. Gemeinsam mit seinem Bruder Richard führte Oskar Hertwig Experimente durch, in deren Ergebnis seine fundierten Arbeiten zur Entwicklungsgeschichte entstanden. Auf seinen Reisen durch Italien gelang Oskar Hertwig in Villafranca 1875 eine Entdeckung von grundlegender Bedeutung. Er stellte fest, dass die Befruchtung durch die Vereinigung von Ei- und Samenzelle, insbesondere von Ei- und Samenkern zustande kommt. Die Beobachtung der Befruchtung am Seeigel machte ihn bekannt. Durch diese Entdeckung hat Oskar Hertwig seinen Namen für alle Zeiten in die Annalen der Anatomischen Wissenschaft geschrieben. Bis dahin war die herrschende Auffassung, dass die Befruchtung ein rein physikalisch-chemischer Prozess sei. Als erster die richtige Deutung der Befruchtung gegeben zu haben, ist Oskar Hertwigs Verdienst. 1875 habilitierte er sich in Jena mit der Arbeit „Beiträge zur Kenntnis der Bildung und Befruchtung des tierischen Eies“.
1875 wurde er auch in Jena Professor der Zoologie und 1881 für Anatomie. 1884 entwickelte er die Theorie, dass der Zellkern der Träger der Vererbung sei. Eine weitere, grundsätzlich neue Erkenntnis war 1890 die Entdeckung der Reduktion der Chromosomen in der reifenden Geschlechtszelle. Bereits 1888 waren seine wissenschaftlichen Leistungen so anerkannt, dass er einen Ruf nach Berlin erhielt, dem er im selben Jahr folgte. Oskar Hertwig wurde der Begründer und Direktor des Anatomisch-biologischen Institutes (II. Anatomisches Institut), das er bis zum 1. April 1921 leitete. Zunächst war sein Institut noch im Hauptgebäude der Universität, Unter den Linden, untergebracht und zog dann in das Haus des verstorbenen Chirurgen Jüngken. Die ersten Berliner Jahre Oskar Hertwigs waren an der Universität durch Umzüge geprägt, die auch dadurch entstanden, dass bedeutende Baukomplexe fertiggestellt wurden. Im Zusammenhang mit dem Bau des Museums für Naturkunde, das im Dezember 1889 eingeweiht wurde, erfolgte auch eine Neugliederung der Sammlungen, die bis dahin im Universitätsgebäude aufbewahrt waren.
Max Lenz beschreibt die näheren Umstände in der „Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin“ so: „Das anatomische Museum wurde nun, freilich mit sehr verminderten Beständen, dem anatomischen Institut angegliedert, das im Garten der Tierärztlichen Hochschule ein neues Heim erhielt, wo es unter Wilhelm Waldeyers weitsichtiger Leitung in einer ähnlichen Entwicklung emporwuchs.
Die verlassenen Räume im Hause der Universität aber wurden die Medizin und Naturforschung noch immer nicht ganz los. Im Westflügel erhielt Oskar Hertwig, der im Herbst 1888 Waldeyer als zweiter vergleichender anatom zur Seite trat, vorläufig seine Arbeitsstätte, nachdem ihm eine Anzahl der Präparate, die aus Müllers vergleichenden Forschungen stammten, aus dem anatomischen Museum überwiesen waren.
Noch in der Zeit, als er auf sein zweites provisorisches Institut angewiesen blieb, das er sich in dem Jüngkenschen Haus errichtete (einem Teil der großherzigen Stiftung, welche die Universität den Töchtern des alten Kollegen verdankt), hat er ein paar Jahre in der Universität gelesen …“ In seinen Vorlesungen und in der Forschung hat er die Gebiete Biologie, Gewebelehre und Entwicklungsgeschichte vertreten. Als Wissenschaftler ist Oskar Hertwig durch seine Werke wie das „Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Wirbeltiere“ (1886), „Die Zelle und die Gewebe“ (1893), „Elemente der Entwicklungsgeschichte der Menschen und der Wirbeltiere“ (1900) sowie sein „Handbuch der vergleichenden und experimentellen Entwicklungslehre der Wirbeltiere“ (1901-1906) bekannt geworden. Die Auseinandersetzung mit dem Darwinismus begleitete sein gesamtes Forscherleben.
Seit 1889 war Oskar Hertwig Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften. Hier setzte er sich besonders dafür ein, dass die Klassen der Akademie eine enge Verbindung der Fachgebiete herbeiführten, um die Erkenntnisse der Einzeldisziplinen zusammenzubringen. In diesem Sinne setzte er sich gemeinsam mit anderen Professoren für eine neue Art der Forschungsorganisation und -institution ein – die dann 1911 gegründete „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“. Oskar Hertwig war 1904/1905 Rektor der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität.

Quelle: Marlis Gebuhr, Ingrid Graubner (http://www.hu-berlin.de/presse/zeitung/num_699/24.html)