Visionär und Evolutionsmystiker
Am 1. Mai 1881 wird Marie-Joseph Pierre Teilhard de Chardin in der Nähe von
Clermont-Ferrand geboren. Seine Eltern entstammen beide dem Landadel der Auvergnaten. Sein Vater ist Bibliothekar und weckt in seinem Sohn als Jäger und Hobby-Naturwissenschaftler schon frühzeitig den Sinn für Minerale, Pflanzen, Insekten, die Vogelwelt und damit auch
die Beobachtungsgabe. Von seiner Mutter übernimmt er eine religiöse Grundhaltung, die die Atmosphäre in der Familie bestimmt. Pierre Teilhard wächst in einer „(…) schützenden Hülle unproblematischer, katholischer Frömmigkeit (…) heran“ (Hemleben 1987: 12). 1899 tritt Teilhard in Aix-en-Provence als Novize in den Jesuitenorden ein. Sein Juvenat absolviert er in Laval-sur-Mayenne und auf der Kanalinsel Jersey.
1905 fährt er als Lehrer für Physik und Chemie nach Ägypten, an das Collège de la Sainte-Famille in Kairo. 1908 wird Pierre Teilhard nach Hastings gesandt, um das theoretische Scholastikat auf dem Weg zur Priesterweihe zu absolvieren, die er 1911 emfpängt. In dieser Zeit liest er das Buch „Schöpferische Entwicklung“ von Henri Bergson, der auf philosophischem Wege die Versöhnung von Schöpfung und Entwicklung herbeizuführen versucht. Auf Teilhard macht dieses Buch den grössten Eindruck. Die Verbindung der Christologie mit der Lehre von Lyell, Huxley und Darwin kann Bergson in seinem Werk nicht herstellen, um so mehr wird es zum Lebensthema Pierre Teilhard de Chardins.
In den Kriegsjahren 1914 bis 1919 arbeitet Teilhard als Priester an der Front, unter anderem in Reims, Verdun und in den Vogesen. Von dort aus schickt er regelmässig Briefe und Aufsätze an seine Cousine Marguerite Teillard-Chambon, die sich als Schriftstellerin Claude Aragonnès nannte. In den Kriegsjahren macht Teilhard Grenzerfahrungen, die sein Leben nachhaltig beeinflussen werden. Dass des Menschen Seele und Geist zur Evolution, zum Wachstum bestimmt sind, gehört von nun an zu den Grundüberzeugungen Teilhards. Nach dem Krieg beginnt Teilhard in Paris das Studium der Geologie und Paläontologie, das er 1922 mit einer Dissertation abschliesst. Zugleich wird Teilhard Präsident der „Société géologique de France“.
1923 unternimmt Teilhard seine erste China-Reise. Als er 1924 zurück nach Paris kommt, stellt er fest, dass es die Obrigkeit der Kirche nach Einsicht in seine neusten Schriften aus China bevorzugt, ihm jede Lehrtätigkeit zu untersagen. Wieder in China entsteht 1926 „Der göttliche Bereich“, eines der wichtigsten Werke von Teilhard. Es ist kein naturwissenschaftliches Werk, sondern eher die Darstellung seines Geistes. Die Veröffentlichung wird ihm vorerst untersagt und erfolgt erst zwei Jahre nach seinem Tod.
1927 bricht Teilhard erneut auf nach Peking auf. Er gehört zu den ersten Geologen, die die Bedeutung der neuen Funde, insbesondere des Peking-Menschen, erkennen. Er folgt mit lebhaftem Interesse den Ausgrabungen und berichtet in wissenschaftlichen Arbeiten hauptsächlich über die Wirbeltierfaunen von Choukoutien (China). Bei Kriegsausbruch 1939 ist Teilhard gezwungen in China zu bleiben, wo er sein Lebenswerk „Le phénomène humain“ („Der Mensch im Kosmos“) schreibt, auf das sich auch diese Arbeit bezieht. Die Veröffentlichung erfolgt wiederum erst nach seinem Tod.
Das Jahr 1950 ist durch zwei markante Einschnitte in Teilhards Leben gekennzeichnet: Die französische Akademie der Wissenschaften ernennt Pater Teilhard de Chardin zu ihrem Mitglied. Damit wird ihm die grösste Ehrung zuteil, die Frankreich an seine Wissenschaftler zu vergeben hat. Gleichzeitig wird ihm in Rom nahegelegt, auf eine ihm angebotene Professur am Collège de France zu verzichten. Teilhard folgt auch hier den Forderungen der Kirche. Auf einer Reise in Südafrika schreibt er: „(…) fest entschlossen bin [ich], ein Kind des Gehorsams zu bleiben. (…) ich kümmere mich (…) nicht mehr um die Verbreitung meiner Ideen (sondern suche sie nur persönlich zu vertiefen).“ Teilhard als Paläontologe hat sich in Fachkreisen den Ruf eines soliden Forschers und umfassenden Kenners von Wirbeltier-Fossilien erworben. Teilhard als Reformer der christlich-katholischen Theologie und Begründer einer neuen Weltsicht bleibt der Welt vorerst unbekannt.
Nach seiner Afrika-Reise zieht er 1951 nach New York, wo er am 10. April 1955 stirbt. Kaum hat Teilhard die Augen geschlossen, beginnt der Kampf um sein Werk. Ein Wirbelsturm erhebt sich, wie ihn die literarische Welt kaum je zuvor erlebt hat. Natur- und Geisteswissenschaftler, Protestanten und Reform-Katholiken stimmen Teilhard freudig zu. In Paris wird darauf die Fondation Teilhard de Chardin eingerichtet.
Teilhard de Chardin beschreibt die Entwicklung der Erde von Anfang an als ein Prozess von zweiseitiger Struktur, nämlich die Zunahme an Komplexität auf materieller Ebene sowie die Zunahme an Zentriertheit auf geistiger Ebene. Er bestreitet weder die Erkenntnisse Lamarcks, wonach die Evolution aufgrund von Gebrauch bzw. Nichtgebrauch eines Organs sowie durch Vererbung erfolgt, noch die Selektrionstheorie Darwins explizit, setzt den Akzent jedoch anders, indem er im ersten Teil seiner Theorie vor allem die Entstehung des Bewusstseins zurückverfolgt. Ebenso hat er die Erkenntnisse der Vererbungswissenschaft zur Kennntis genommen und setzt diese seiner Theorie zugrunde. Teilhard de Chardin geht von einer gerichteten Evolution aus, wonach die zunehmende Komplexität der Elemente in eine Richtung streben. Weshalb sie das tun, aufgrund eines Willens im Sinne der Psycholamarckisten, erklärt er nicht explizit. Eine eindeutige Parallele lässt sich jedoch im Vergleich mit den Orthogenesis-Theoretikern ausmachen, die ebenso von einer gerichteten Evolution und einer Vervollkommnung der Organismen ausgehen. Auch bei ihnen kommt ein schöpferisches Moment hinzu.
Im Vergleich mit Darwin lassen sich zwei Punkte ausmachen, die von Bedeutung sind. Die Erkenntnisse aus der Selektionstheorie nimmt Teilhard als gegeben, er spricht sich gegen die Rassenlehre aus, die jedoch lediglich eine Folge der Selektionstheorie ist und nicht genuin darwinistisch. Ein markanter Unterschied zwischen Darwin und Teilhard liegt in der Auffassung vom Gang der Evolution. Während Darwin von einer graduellen Entwicklung im Sinne der natürlichen Auslese ausgeht, betrachtet Teilhard die Evolution als sprunghaft (Überlagerung und Ersetzung statt Kontinuität und Verlängerung, vgl. Kapitel 2.2.3). Diese Auffassung teilt Teilhard mit den Neodarwinisten und den Vertretern der Synthetischen Theorie. Der zweite Unterschied betrifft die Evolutionsmechanismen: Während Darwin davon ausgeht, dass die Evolution durch natürliche Auslese vorangetrieben wird, also quasi von unter her, liegen bei Teilhard die Triebkräfte der Evolution im Punkt Omega, der die Entwicklung der Elemente bewirkt, indem er sie zu sich hinaufzieht.
leicht verändert nach: http://socio.ch/relsoc/t_vhaag.html#2.1