Hildegard von Bingen strebte eine Natursicht von Einheit und Ganzheit an
Hildegard von Bingen wurde im Jahr 1098 geboren, das genaue Datum ist unbekannt, da es bis ins späte Mittelalter hinein üblich war, nur die Todestage zu dokumentieren.
Hildegard wurde in eine Zeit des Umbruchs hineingeboren, eine Wendezeit – wie man heute sagen würde. Im 11. Jahrhundert (1054) war es zu dem verhängnisvollen Riss zwischen Rom und Byzanz und zu der Spaltung in eine West- und Ostkirche gekommen. Im Westen tobte der Streit zwischen Kaiser und Papst um die Oberhoheit im Reich. Die Kaiser wollten ihre Rechte erweitern, die mächtigen und machtbewussten Päpste dagegen ihre geistliche Vollmacht auf die politische Ebene weiter ausdehnen.
Im Jahr 1097, ein Jahr vor Hildegards Geburt, brach der erste Kreuzzug in den nahen Osten auf. 1099 – ein Jahr nach ihrer Geburt – wurde Jerusalem von den Kreuzfahrern zurückerobert und damit das Vordringen des Islam zunächst einmal gestoppt.
Im Zuge der Kreuzzugsbewegung – eines der dunkelsten Kapitel der Kirchengeschichte – ereignete sich allerdings auch eine bis dahin nicht gekannte Begegnung der verschiedenen Kulturen. Diese wirkte sich auf das ganze Abendland aus, und auch Hildegard profitierte später z. B. in ihren Studien der aristotelischen Schriften und der Werke arabischer Natur- und Heilkunde nachhaltig von diesem Austausch. Auch in die Theologie kam im 11. und 12. Jahrhundert Bewegung. Mit Anselm von Canterbury und Petrus Abaelard begann die Frühscholastik, die nach Einsicht und Verständnis des Glaubens und nach einer Übereinkunft von Glauben und Wissen strebte. Sie löste im 12. Jahrhundert die sogenannte Monastische Theologie ab, zu deren letzten grossen Vertretern Hildegard von Bingen zu rechnen ist.
Schon im frühen Kindesalter von drei Jahren hat Hildegard, wie sie selbst es später beschrieben hat, „ein so grosses Licht gesehen, dass meine Seele erbebte“ (Vita, S. 64). In der Begegnung mit dem Licht – später von ihr selbst das „Lebendige Licht“ genannt – schaute und sah sie Dinge, die für andere unsichtbar und auch ihr selbst lange unverständlich blieben. Viele Jahre schwieg sie darüber und erzählte niemandem von ihren Erfahrungen. Doch später hat sie den Einbruch des Lichtes in ihr Leben als Zeichen der Erwählung und Berufung von Anfang an gedeutet: „Die Gabe der Schau“, so schrieb sie, „wurde meiner Seele schon vor meiner Geburt vom Schöpfergott eingeprägt“ (Briefwechsel, S.236).
Im jugendlichen Alter übergaben ihre Eltern Hildebert und Mechthild Hildegard der Klausnerin Jutta von Sponheim auf den Disibodenberg zur Erziehung. Was für heutige Ohren befremdlich klingen mag, war damals keineswegs unüblich. Seit Generationen waren die Klöster anerkannte Hochburgen klassischer Bildung und Wissenschaft und übten bis zum Aufkommen der Universitäten im ausgehenden 12. Jahrhundert eine grosse Anziehungskraft auf die bildungshungrigen Mitglieder des europäischen Adels aus. Der Disibodenberg in seiner noch heute spürbaren geheimnisvollen Entrücktheit übte darüber hinaus seit Jahrhunderten eine geradezu magische Anziehungskraft auf die regionale Bevölkerung aus. Im 7. Jahrhundert hatte hier der irische Missionar Disibod dort zunächst als Einsiedler begonnen und später den Grundstock für ein Kloster gelegt, das zu Zeiten Hildegards bereits weithin bekannt und angesehen war. Jutta von Sponheim hatte im Schatten der mächtigen Benediktinerabtei im Jahr 1106 eine Frauenklause gegründet. Sie nahm in einer Seitenkapelle am Chorgebet der Mönche teil und führte ansonsten das Leben einer Reklusin und Leiterin der kleinen Frauengemeinschaft.
Der Alltag in der Frauenklause war geprägt durch den typisch benediktinischen Lebensrhythmus mit seinem Wechsel von Gebet und Arbeit, Studium und geistlicher Lesung, gemeinschaftlichem Leben und Einsamkeit. Hier lernte Hildegard Lesen und Schreiben, hier wurde sie unterwiesen im Psalmengesang, in der lateinischen Sprache, im Gesang und in der damals noch üblichen Neumennotation. Hier übte sie sich in der Betrachtung und Meditation der heiligen Schrift und im Gebet. Der Dreischritt „Lectio“, „Meditatio“ und „Oratio“, die Grundlage der Monastischen Theologie, wurde ihr so sozusagen von Kindheit an zur zweiten Natur. Fast 40 Jahre vollzog sich Hildegards Leben in diesem schlichten Gleichmass benediktinischen Alltags.
Auf dem Disibodenberg hat sich Hildegard – vermittelt durch die Meisterin Jutta und durch den Mönch Volmar, der später ihr Sekretär werden sollte – aber auch eine profunde Bildung und Gelehrsamkeit angeeignet. Obwohl sie sich in ihren Schriften später immer wieder als ungelehrte Frau, als „forma indocta“ und als „simplex homo“ bezeichnete, besass sie dennoch umfangreiche biblische, theologische, philosophische und naturkundliche Kenntnisse.
Biographisch gesehen ist das Jahr 1141 wohl das entscheidende Lebensjahr Hildegards gewesen. Denn von nun an sollte sich ihr Leben dramatisch ändern. Es begann der Lebensabschnitt, der ihr die Verehrung als Heilige eintrug und ihr später die Titel „prophetissa teutonica“, „Posaune Gottes“, erste deutsche Theologin, Komponistin und Naturforscherin verlieh. Sie selbst beschrieb diese entscheidende Wende in ihrem Leben im Vorwort zu ihrem Erstlungswerk „Scivias“:
„Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, als ich 42 Jahre und sieben Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte meine Brust. Und plötzlich erschloss sich mir der Sinn der Schriften… Und ich vernahm eine Stimme vom Himmel, die zu mir sprach: Schreibe auf, was du siehst und hörst!“ Und weiter an anderer Stelle: „Ich sehe all diese Dinge nicht mit den äusseren Augen und höre sie nicht mit den äusseren Ohren; ich sehe sie vielmehr einzig und allein in meinem Inneren, aber mit offenen leiblichen Augen, so dass ich niemals die Bewusstlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies bei Tag und bei Nacht.“
Der erneute Einbruch des Lichtes in ihr Leben und die damit verbundene Gabe der Schau hat Hildegard den Namen einer Visionärin verliehen. Sie nahm den göttlichen Auftrag, der übrigens wiederum in vielem auffallende Parallelen zu den Berufungsgeschichten der alttestamentlichen Propheten aufweist, an und begann das niederzuschreiben, was sie im „Lebendigen Licht“ erkannte. Sie betrachtete sich dabei, gleich wie die Propheten, als Werkzeug und Sprachrohr Gottes. Es ging ihr nicht um eine persönliche Seelenmystik oder eine weltlose Innerlichkeit, nicht um private Versenkungen oder Einungserlebnisse mit dem göttlichen Gegenüber, sondern darum, die Menschen ihrer Zeit wachzurütteln, sie zur Umkehr zu bewegen und der wachsenden Gott-Vergessenheit entgegenzutreten. Hildegards Schau drängte auf ein Tun, ihr Erkennen zielte auf ein Wirksamwerden und auf die Mobilisierung der Weltverantwortung – in aller Nüchternheit, aber auch mit „brennender Vernunft“, von der sie so oft sprach.
Faszinierend an Hildegards Visionen ist nicht nur die inhaltliche Fülle und Vielseitigkeit, sondern vor allem auch die einzigartige Verknüpfung theologischer, kosmologischer, naturkundlicher und spiritueller Erkenntnisse. Alles Geschaute erhält bei Hildegard auf den verschiedensten Ebenen seinen Sinn und seine Entsprechung. Alles ist miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Hildegard ging es um eine religiöse Deutung des ganzen Universums und um ein konsequent gelebtes christliches Lebens in allen Bereichen des Lebens. Alles, Himmel und Erde, Glaube und Naturkunde, das menschliche Leben in all seinen Facetten und Möglichkeiten, war für sie ein Spiegel der göttlichen Liebe (speculum divinae caritatis) und wird damit transparent auf den Schöpfer hin.
Bezeichnend ist auch Hildegards souveräner Umgang mit den Quellen, die sie völlig frei und schöpferisch in ihre Gesamtschau einfliessen lässt. Hildegard greift auf Vorgegebenes zurück, und dennoch entsteht immer völlig Neues, Einzigartiges, das ohne Vorbild und in dieser Form auch ohne Nachkommen ist. Beeindruckend ist auch die elementare Sprachgewalt ihrer Bilder, die es dem heutigen Leser allerdings oft auch schwer macht, ihre Gedanken und Deutungen zu verstehen. Auch sprachlich verfügt sie über grosse Variationsmöglichkeiten: sie beherrscht den narrativen Stil ebenso wie den dramatischen, den wissenschaftlich-deskriptiven in gleicher Weise wie den lyrischen. Sie füllt alte Begriffe mit neuen Inhalten, schafft völlig neuartige lateinische Begriffe („fenestraliter“, „viriditas“), komponiert Lieder und Hymnen und betätigt sich auch als Dramaturgin. Nicht umsonst wird sie in der Literatur bisweilen ein Universalgenie genannt.
An ihrem Erstlingswerk „Scivias – Wisse die Wege“ arbeitete Hildegard zehn Jahre – nicht wie sie immer wieder betont, aus Freude am Schreiben, sondern aus der Verpflichtung heraus, das zu verkünden, wozu sie sich berufen wusste. Wie gross die Mühe war, die sie das Schreiben kostete, und wie stark die inneren Widerstände waren, die sie zu überwinden hatte, schildert sie im Vorwort zum Buch Scivias: „Erst als Gottes Geissel mich auf das Krankenlager warf, legte ich endlich Hand ans Schreiben. Die heftigen Schmerzen erlitt ich deshalb, weil ich die Schau, die mir gezeigt worden war, nicht offenbaren wollte.“ Zeit ihres langen Lebens hat Hildegard offenbar unter einer chronischen Krankheit gelitten, die sie immer wieder daniederwarf. Doch – wie eingangs aus der Kindheit berichtet – waren Geist und Willen dafür um so stärker. Was in mühevoller Arbeit entstand, war dann eines der imponierendsten Weltpanoramen des Mittelalters – nicht selten als Grundlage von Dantes „Divina Commedia“ bezeichnet.
Im „Scivias“ schlägt Hildegard in einer wahrhaft prophetischen Glaubenskunde den grossen heilsgeschichtlichen Bogen von der Schöpfung der Welt und des Menschen über das Werden und Sein der Kirche bis zur Erlösung und Vollendung der Welt am Ende der Zeiten. Hildegard stellt den Menschen als die vornehmste Schöpfung Gottes in den grossen kosmischen Bezügen der Schöpfungsgeschichte dar. Sie beschreibt in herrlichen Bildern die ursprüngliche Harmonie von Mensch und Kosmos, von Geist und Welt, die erst durch die Sünde des aufbegehrenden Menschen, des „homo rebellis“, gestört und immer wieder neu zerstört wird. Ausgangspunkt ihres Nachdenkens ist Gott selbst, dessen Wesen Hildegard in immer neuen Bildern beschreibt: Er ist die höchste Kraft aus Feuer (summa et ignea vis), Er ist das Leben (vita), Er ist der Geist, der dem Menschen die Kraft zum Denken gibt (rationalitas), Er ist das umfassende und geordnete Leben (integra vita), Er ist die Liebe (caritas) und die Weisheit (sapientia). Er ist das Rad (rota), das ohne Anfang und ohne Ende ist, unendlich und doch immer neu.
In ihm, in Gott, existiert das Gesamt der Schöpfung, das er immer schon, von Urbeginn an, in seinem unendlichen und unbegreiflichen Vorauswissen (praescientia Dei) im Herzen trug. Der Schöpfungsvorgang selbst geschieht aus reiner Liebe, und sein Sinn liegt allein in dem Wunsch und dem Verlangen Gottes, sich zu offenbaren und sich mit-zuteilen. Alles Geschaffene ist so von Anfang an auf Gott hin bezogen. Er wartet auf die Antwort des Menschen und der Kreatur. Diese Antwort aber kann nur im Erkennen und Anerkennen dieser Liebe Gottes bestehen. Daher ist die ganze Schöpfung so angelegt, dass sie Gott preist – sei es durch ihre Schönheit wie bei der Natur, sei es durch die antwortende Liebe des Menschen. Erst durch diese Antwort gelangt alles Geschaffene selbst zur Fülle des Lebens. Schöpferisches Wort Gottes und die Antwort der Schöpfung sind für Hildegard ein dialogisches Geschehen. Dieses wird auch wunderbar deutlich in dem lateinischen Wort „Opus Dei“, das einerseits das Werk Gottes bezeichnet, andererseits aber auch die Antwort der Schöpfung, das Lob Gottes, den Gottesdienst.
Hildegards Entwurf einer Schöpfungs- und Erlösungstheologie fand bereits während seiner Niederschrift weithin Beachtung. Vermittelt durch den Mainzer Erzbischof Heinrich und unterstützt von dem mächtigen und einflussreichen Bernhard von Clairvaux fand Hildegards „Scivias“ 1147 sogar den Weg zur Reformsynode in Trier, an der auch Papst Eugen III. teilnahm. Dieser las – ein bis dahin undenkbarer Vorgang – den dort versammelten Bischöfen eigenhändig aus Hildegards Schrift vor und bestätigte und beglaubigte damit den Inhalt mit seiner höchsten kirchlichen Autorität. Für Hildegard war diese Anerkennung Ermutigung und Ansporn zugleich, für ihre Umgebung aber der endgültige Beweis dafür, dass die Meisterin vom Disibodenberg eine wirkliche „Posaune Gottes“ war. Entsprechend verbreitete sich die Verehrung Hildegards sehr rasch. Es begann, das, was eingangs als die dritte Lebensphase Hildegards skizziert wurde: das öffentliche Wirken und Engagement, der Auszug aus dem zurückgezogenen Leben auf dem Disibodenberg mitten hinein in das Zentrum kirchlicher und politischer Macht.
Es ist wohl kein Zufall, dass Hildegard parallel zu diesen Ereignissen bereits seit einigen Jahren die Absicht verfolgte, gemeinsam mit ihren Schwestern den Disibodenberg zu verlassen und damit aus dem Schatten der mächtigen Männerabtei herauszutreten. Im „Lebendigen Licht“ hatte sie einen Ort geschaut, der etwa einen Tagesritt entfernt lag, dort, wo der Fluss bei Bingen in den Rhein mündet, und wo seit alters her in einem kleinen Heiligtum des Heiligen Rupertus und seiner Mutter Berta gedacht wurde. Bereits 1150 zog Hildegard gegen den erbitterten Widerstand der Mönche vom Disibodenberg mit ihren 20 Schwestern in das noch nicht fertige gebaute Kloster auf den Rupertsberg.
Das Kloster Rupertsberg muss ein ansehnliches Gebäude gewesen sein, gut geplant und durchdacht, mit einer dreischiffigen Pfeilerbasilika als Zentrum. Leider wurden die letzten verbliebenen Ruinen 1858 im Zuge des Baus der Nahetaleisenbahn endgültig zerstört. Von dem vormaligen Langhaus sind nur fünf Arkaden der Mittelschiffswand erhalten geblieben. Eine Vorstellung vom Aussehen der ehemaligen Abtei vermittelt Matthias Grünewald im Hintergrund seiner Verkündigungsdarstellung auf dem Isenheimer Altar.
Noch in den Jahren des Umzugs und Neubaus des Rupertsberges entstand ihr Mysterienspiel „Ordo Virtutum“ (Spiel und Ordnung der Kräfte), das im Jahr 1152 anlässlich der Weihe der neuen Abteikirche uraufgeführt wurde, und dessen Grundthema später in ihrem zweiten theologischen Hauptwerk, dem „Liber vitae meritorum“ (Buch der Lebensverdienste) noch einmal ausführlich seinen Niederschlag fand (1158-1163). In ihm schildert Hildegard den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, der sich im Herzen des Menschen und überall in der Welt immer neu als Preis der Freiheit ereignet. In 35 dramatischen Dialogen lässt Hildegard Tugenden und Laster zu Wort kommen und ihren Streit um die Seele des Menschen ausfechten. Der Mensch ist in diesem Kampf aufgefordert, sich immer neu zu entscheiden. Er ist dazu fähig, weil er von Natur aus mit der – wie Hildegard sie nennt – „bona et mala scientia“ (dem Wissen um Gut und Böse) ausgestattet ist, jener Gewissensinstanz, die tief im Inneren anzeigt, was richtig und was falsch ist, und die Hildegard radikal ernst nahm. „Da du dieses Wissen um Gut und Böse in dir hast“, sagt sie „und da du die Fähigkeit hast, entsprechend zu wirken und zu handeln, kannst du dich durch nichts entschuldigen“. Und weiter: „Wer das Gute nicht tut, wen Gesetzlosigkeit, Gewalt und Willkür beherrschen, der macht sich selbst unfrei und wird so zum Sklaven seiner eigenen Begierden.“
Sind diese Gedanken vor dem Hintergrund mancher heutiger Wertediskussionen in Politik und Gesellschaft nicht aktueller denn je? Und erst recht, wenn man bedenkt, dass Hildegard das gute Handeln und das Leben gemäss bestimmter Werte wie Ehrfurcht, Liebe, Wahrheit, Treue, Masshaltung, Freude und Hoffnung nicht nur als ethische Forderungen betrachtete, sondern als Mittel und Weg zu heilem und gesunden Leben? Sittliches Handeln und äusseres Wohlbefinden, d.h. Gesundheit, gehörten für Hildegard untrennbar zusammen. Christus selbst ist für sie der „magnus medicus“ (Scivias I,3). Deshalb ist eine Leben nach seinen Geboten das Heilmittel und Mittel zum Heil schlechthin. Auf dem Weg über die Ethik weist uns Hildegard also den Weg zu einer heilsamen und gesunden Lebensordnung, Lebensführung und Lebensplanung. Ziel ist es dabei auch hier wieder, die verlorene Einheit zwischen dem Schöpfer auf der einen Seite und dem Geschöpf und der Schöpfung auf der anderen Seite wieder herzustellen.
Der Einheits- und Ganzheitsgedanke steht auch im Mittelpunkt der natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards, die ca. zwischen 1150 und 1165 ebenfalls auf dem Rupertsberg entstanden. Das nicht mehr erhaltene Originalwerk trug einst den Titel „Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum“, wurde aber bereits im 13 Jahrhundert aufgeteilt in die beiden Werke „Physica“ (Liber simplicis medicinae), die eine Beschreibung bestimmter Arznei- und Heilmittel enthält, und in die „Causae et curae“, in der Heil- und Behandlungsmethoden verschiedener Krankheiten beschrieben werden. Ungeklärt ist bis heute, ob und wenn ja, welche Teile dieser Werke aus der Feder Hildegards direkt stammen und welche Teile später hinzugefügt wurden. Inhaltlich handelt es sich bei beiden Schriften um sehr kenntnisreiche Kompilationen aus volkskundlichen Erfahrungen, antiker medizinischer Überlieferung sowie christlichen und vor allem benediktinischer Traditionen, so z.B. wenn Hildegard die Barmherzigkeit (misericordia), die Reue des Herzens und eine massvolle, geordnete Lebensführung als die Heilmitttel schlechthin bezeichnet. Klöster – und das traf sowohl für den Disibodenberg wie auch für den Rupertsberg zu, waren im Mittelalter die Heilstätten schlechthin. Mönche und Nonnen hatten Kräutergärten und Apotheken und gaben schriftlich und mündlich ihr Heilwissen von einer Klostergeneration zur anderen weiter. Auch Hildegard stand ganz in dieser Tradition. Zudem hatte sie, wie eingangs berichtet, von früher Jugend an Zugang zu entsprechender griechischer und arabischer Literatur. Ausserdem besass sie ganz offenkundig eine gute Beobachtungsgabe, dazu eine hohe Intuition und ein grosses Einfühlungsvermögen für die Sorgen und Nöte der Menschen. Dies alles zusammen brachte den Ruf einer „ersten deutschen Ärztin“ ein, und dies ist es wohl auch, was sie heute bei Freunden und Anhängern der Naturheilkunde und Alternativmedizin so begehrt macht.
Einen besonderen Stellenwert in diesem einzigartig geschlossenen Welt- und Menschenbild Hildegards nehmen auch ihre Lieder, die sogenannten „Symphonia“, ein. Diese entstanden zwischen 1151 und 1158 und wurden von ihr erstlich für den liturgischen Gebrauch im Kloster Rupertsberg gedichtet und komponiert. Der eigentliche Titel, den Hildegard den 77 Liedern, Hymnen, Antiphonen, Sequenzen und Responsorien gab, lässt erahnen, worum es ihr ging. Er lautet „Symphoniae harmoniae celestium revelationum“, d.h. Lieder, die die himmlische Harmonie erkennen bzw. erklingen lassen. Auch die Musik ist für Hildegard also göttlichen Ursprungs. So lässt sie Gott selbst einmal sagen: „Ich habe den Lebenshauch in preisende klingende Harmonien gebracht“. Welt und Mensch als Ganzes bilden ein wohlklingendesGefüge der Beziehungen und Entsprechungen. Der Kosmos ist musikalisch strukturiert (musica mundana) und die Seele des Menschen ist symphonisch gestimmt (anima symphonizans est). Alles ist harmonisch aufeinander abgestimmt und legt so Zeugnis ab für die ursprüngliche himmlische Harmonie.
Einen ganz anderen als den poetisch-lyrischen Stil ihrer Lieder schlug Hildegard in ihrem umfangreichen Briefwechsel an. Hier war sie wieder ganz die „Posaune Gottes“, die ihr prophetisches Anliegen wortgewaltig in die Welt tragen wollte. 390 Briefe sind uns überliefert. Es sind Zeugnisse unerschrockener Direktheit, mahnender Sorge, erfrischend humorvoller Weitherzigkeit, persönlichen Engagements und auch weitreichender (kirchen-) politischer Einflussnahme. Mehr als aus ihren anderen Schriften kann man den Briefen entnehmen, dass Hildegard bereits zu Lebzeiten eine anerkannte Autorität gewesen sein muss. Ungezählte Menschen, Grosse und Kleine, Päpste, Kaiser, Fürsten und Äbte, ebenso aber einfache Bauern, Priester und Ordensleute suchten bei ihr Rat. Ihre Meinung war gefragt, auch wenn sie nur allzu oft unbequem und keineswegs immer schmeichelhaft war.
Einer der bekanntesten Briefwechsel ist wohl der mit Friedrich Barbarossa, „durch Gottes Gnade römischer Kaiser und ständiger Mehrer des Reiches“ – wie sein offizieller Titel damals lautete. Ihm schrieb Hildegard folgende Mahnung ins Stammbuch: „Auch du bist ein Diener Gottes, der du eingesetzt bist, Gottes Herde zu leiten und zu schützen. So höre: Gott gab dem Menschen das Gesetz. Deshalb ahme auch du den höchsten Richter und Lenker in seiner Barmherzigkeit nach. Er allein ist der Weg der Wahrheit. Alle Gewalt und Herrschaft geht allein von ihm aus; alles empfängt von ihm seinen Namen. Dem gemäss sollen die Herrscher der Erde ihre Völker regieren (…) Möge der Heilige Geist dich also belehren, dass du gemäss seiner Gerechtigkeit lebst und wirkst.“ Nicht nur den weltlichen Herrschern bot Hildegard mutig die Stirn. Wenn es um die Wahrheit ging, dann war sie kompromisslos bis zum Letzten. Unzählige Geistliche, Priester und Ordensleute mahnte sie zu mehr Glaubwürdigkeit und zu überzeugenderem Engagement. Leben und Lehre – davon war sie überzeugt – mussten miteinander übereinstimmen. Und so schrieb sie etwa an den Klerus von Köln:
„Geliebte Söhne, Gott hat euch eingesetzt, damit ihr leuchtet durch das Feuer der Lehre, glänzt durch euren guten Ruf und die Herzen der Menschen brennen macht… Eure Zungen aber sind stumm. Deshalb fehlen bei euren Predigten die Lichter, wie wenn die Sterne nicht leuchten. Ihr seid Nacht, die Finsternis aushaucht… Ihr solltet eine Wohnstätte sein, in der Gott wohnt. Aber das seid ihr nicht… Ihr schaut nicht auf Gott und verlangt auch nicht danach, ihn zu schauen. Ihr blickt vielmehr auf euch selbst und auf eure Werke und urteilt nach eurem eigenen Gefallen. (…) Ihr müsstet die starken Eckpfeiler sein, die die Kirche stützen, aber ihr seid kein Halt mehr für sie. Deshalb kehrt um und müht euch nach Kräften, diesem Wandel zu entfliehen.“
Deutliche Worte, die auch heute, 900 Jahre später, nichts an Aktualität verloren haben. Hildegards Aufrufe zu Umkehr und Neuorientierung fanden Gehör. Überallhin wurde die Äbtissin vom Rupertsberg nun eingeladen, um öffentlich zu predigen. Und trotz ihres inzwischen fortgeschrittenen Alters scheute sie keine Mühe. Per Schiff oder zu Pferd reiste sie in den Jahren 1160-1170 in ca. 20 Städte und rief zu Besinnung und Neubeginn im Geist des Glaubens auf: Mainz, Würzburg und Bamberg standen auf dem Programm, Trier und Metz, Köln und Siegburg, Maulbronn, Hirsau und Zwiefalten. Hildegard wurde geachtet, mancherorts auch gefürchtet – überall aber bewundert und verehrt.
Die Berühmtheit Hildegards hatte den Zulauf auf den Rupertsberg beständig anwachsen lassen, und schon 15 Jahre nach seiner Begründung war das Kloster schon wieder zu klein geworden. Nicht zuletzt auch der Wunsch vieler nichtadeliger Frauen, ins Kloster zu gehen, (im Kloster Rupertsberg hatte Hildegard, die sehr standesbewusst war, nur adelige Frauen aufgenommen) bewog Hildegard dazu, noch einmal eine Klostergründung in Angriff zu nehmen. Schon nach kurzer Suche wurde sie jenseits des Rheins, in Eibingen , fündig. Dort befand sich ein leerstehendes ehemaliges Augustinerkloster, das sie kaufte und umbauen liess. 1165 wurde die Zweitgründung eingeweiht; 30 Nonnen bildeten den Konvent von Eibingen. Hildegard selbst war damit Äbtissin zweier Klöster und fuhr wöchentlich zweimal mit einem Nachen über den Rhein, um ihre Schwestern in Eibingen zu besuchen.
Zur selben Zeit begann sie auch mit der Niederschrift ihres grossen Alterswerkes, dem „Liber divinorum operum“ (Welt und Mensch). In dieser gewaltigen Kosmosschrift fliesst noch einmal alles zusammen, was Hildegard Zeit ihres Lebens so wichtig gewesen war. Welt und Mensch erstrahlen als Kunstwerk Gottes; aus der Urkraft Seiner Liebe fliessen Schöpfung, Inkarnation und Erlösung in einer all-umfassenden Einheit zusammen. Der Mensch erscheint als Mikrokosmos, der in all seinen körperlichen, geistigen und seelischen Kräften die Gesetzmässigkeiten des gesamten Makro-Kosmos widerspiegelt. „So wie der Künstler seine Formen hat, nach denen er seine Gefässe macht“, schreibt Hildegard, „so bildet Gott die Gestalt des Menschen nach dem Bauwerk des Weltgefüges, nach dem ganzen Kosmos“. Die Urformen des Seins sind für Hildegard dabei der Kreis bzw. das Rad und das Kreuz – Symbole der unermesslichen, nie endenden Liebe Gottes, der Einheit und Verbundenheit alles Geschaffenen und der unerschütterlichen Hoffnung auf Erlösung und auf den Sieg des Guten. Und wie schon in ihrem ersten grossen Werk „Scivias“ ruft Hildegard dem Menschen zu:
„Oh Mensch, schau dir den Menschen an: er hat Himmel und Erde und die ganze übrige Kreatur in sich. In ihm ist alles verborgen schon vorhanden. Oh wie herrlich ist Gott, der schöpferisch wirkt und seine eigene Herrlichkeit durch die Geschöpfe offenbart. Wenn du zu deinem Schöpfer aufblickst und sagst ‚Mein Gott bist du‘, dann entzündet sich in dir das Feuer der Liebe, aus der alles Leben entsteht und alles Gute hervorgeht. Du hast also die Wahl, denn du kannst nicht zwei Herren dienen. Darum, oh Mensch, schau auf zu deinem Gott – und die Erde wird neu werden!“
In diesen Worten findet sich die bleibende Botschaft und das eigentliche Vermächtnis Hildegards von Bingen. Hildegard war und ist ein Stachel im Fleisch von Kirche und Welt und ruft jeden Menschen ganz persönlich in die Entscheidung. Sie hat sich selbst verzehrt und blieb bis zuletzt Kämpferin für den Glauben und Anwältin Gottes und seiner schöpferischen Liebe. Sie hat dafür bis zu ihrem Tod bisweilen einen hohen Preis bezahlt. Das zeigt noch einmal ein Ereignis in ihrem letzten Lebensjahr: Hildegard hatte einen jungen Edelmann, der exkommuniziert war, aber vor seinem Tod durch den Empfang der Sakramente wieder in die Kirche zurückgekehrt war, auf dem Rupertsberger Klosterfriedhof beigesetzt. Der Bischof von Mainz forderte die Exhumierung des Leichnams, doch Hildegard weigerte sich standhaft und verhinderte die gewaltsame Herausgabe, indem sie das Grab unkenntlich machte. Ihre unbeugsame Haltung wurde mit dem Interdikt bestraft. Die Klostergemeinschaft war damit ihres Herzstückes beraubt: sie dürfte nicht mehr öffentlich das Gotteslob vollziehen, der Kommunionempfang wurde verboten. Hildegard nahm die Strafe auf sich, wurde aber nicht müde, trotz ihres hohen Alter noch um deren Aufhebung zu ringen. Nach zwei Jahren erreichte sie ihr Ziel und das Interdikt wurde aufgehoben. Der letzte Rest ihrer Lebenskraft war aufgezehrt.
Am 17. September 1179 starb Hildegard von Bingen. Bei ihrem Tod soll ein helles Licht am Himmel aufgestrahlt sein – ein letztes Mal, diesmal von Angesicht zu Angesicht, durfte sie das „Lebendige Licht“ schauen.