Die Lepaden

DIE LEPADEN

[Zur Morphologie, Band II Heft 2, 182

Die tiefgeschöpften und fruchtreichen Mitteilungen des Herrn Dr. Carus sind mir von dem größten Werte; eine Region nach der andern des grenzenlosen Naturreiches, in welchem ich Zeit meines Lebens mehr im Glauben und Ahnen, als im Schauen und Wissen mich bewege, klärt sich auf, und ich erblicke was ich im allgemeinen gedacht und gehofft, nunmehr im einzelnen, und gar manches über Denken und Hoffen. Hierin finde ich nun die größte Belohnung eines treuen Wirkens, und mich erheitert es gar öfters, wenn ich hie und da erinnert werde an Einzelheiten, die ich wie im Fluge wegfing und sie niederlegte in Hoffnung, daß sie sich einmal irgendwo lebendig anschließen würden, und gerade diese Hefte (zur Morphologie) sind geeignet, derselben nach und nach zu gedenken.

Einige Betrachtungen über die Lepaden bring ich dar, wie ich sie in meinen Papieren angedeutet finde.

Jede zweischalige Muschel, die sich in ihren Wänden von der übrigen Welt absondert, sehen wir billig als ein Individuum an; so lebt sie, so bewegt sie sich allenfalls, so nährt sie sich, pflanzt sich fort und so wird sie verzehrt. Die lepas anatifera, die sogenannte Entenmuschel, erinnert uns gleich mit ihren zwei Hauptdecken an eine Bivalve; allein schnell werden wir bedeutet, hier sei von einer Mehrheit die Rede; wir finden noch zwei Hilfschalen, nötig um das vielgliedrige Gechöpf zu bedecken; wir sehen an der Stelle des Schlosses eine fünfte Schale, um dem Ganzen rückgratsweise Halt und Zusammenhang zu geben. Das hier Gesagte wird jedem deutlich, der Cuviers Anatomie dieses Geschöpfs: Mémoires du Muséum d’Histoire naturelle. Tom II. p. 100, vor sich nimmt.

Wir sehen aber hier kein isoliertes Wesen, sondern verbunden mit einem Stiele oder Schlauch, geschickt sich irgendwo anzusaugen, dessen unteres Ende sich ausdehnt wie ein Uterus, welche Hülle des wachsenden Lebendigen sich sogleich von außen mit unerläßlichen Schaldecken zu schützen geeignet ist.

Auf der Haut dieses Schlauches also finden sich an regelmäßigen Stellen, die sich auf die innere Gestalt, auf bestimmte Teile des Tieres beziehen, prästabilierte fünf Schalenpunkte, welche, sobald sie in die Wirklichkeit eingetreten, sich bis auf einen bestimmten Grad zu vergrößern nicht ablassen.

Hierüber würde nun eine noch so lange Betrachtung der lepas anatifera uns nicht weiter aufklären; dahingegen die Beschauung einer andern Art, die zu mir unter dem Namen lepas polliceps gekommen, in uns die tiefsten allgemeinsten Überzeugungen erweckt. Hier ist nämlich, bei derselben Hauptbildung, die Haut des Schlauches nicht glatt und etwa nur runzlig wie bei jener, sondern rauh, mit unzähligen kleinen erhabenen, sich berührenden, rundlichen Punkten dicht besät. Wir aber nehmen uns die Freiheit zu behaupten, eine jede dieser kleinen Erhöhungen sei von der Natur mit Fähigkeit begabt, eine Schale zu bilden, und weil wir dies denken, so glauben wir es wirklich, bei mäßiger Vergrößerung, vor Augen zu sehen. Diese Punkte jedoch sind nur Schalen in der Möglichkeit, welche nicht wirklich werden, solange der Schlauch sein anfängliches natürliches Engenmaß behält. Sobald aber am untern Ende das wachsende Geschöpf seine nächste Umgebung ausdehnt, so erhalten sogleich die möglichen Schalen einen Antrieb, wirklich zu werden; bei lepas anatifera in Regel und Zahl eingeschränkt.

Nun waltet zwar bei lepas polliceps dieses Gesetz immer noch vor, aber ohne Zahleinschränkung; denn hinter den fünf Hauptpunkten der Schalenwerdung entstehen abermals eilige Nachschalen, deren das innere wachsende Geschöpf, bei Unzulänglichkeit und allzu früher Stockung der Hauptschalen, zu fernerer Hilfe des Zudeckens und Sicherns bedarf.

Hier bewundern wir die Geschäftigkeit der Natur, den Mangel der ausreichenden Kraft durch die Menge der Tätigkeiten zu ersetzen. Denn da, wo die fünf Hauptschalen nicht bis an die Verengerung reichen, entstehen sogleich in allen durch ihr Zusammenstoßen gebildeten Winkeln neue Schalreihen, die, stufenweise kleiner, zuletzt eine Art von winziger Perlenschnur um die Grenze der Ausdehnung bilden, wo sodann aller Übertritt aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit durchaus versagt ist.

Wir erkennen daran, daß die Bedingung dieses Schalwerdens der freie Raum sei, welcher durch die Ausdehnung des untern Schlauchteils entsteht; und hier, bei genauer Betrachtung, scheint es, als wenn jeder Schalpunkt sich eile, die nächsten aufzuzehren, sich auf ihre Kosten zu vergrößern und zwar in dem Augenblicke, ehe sie zum Werden gelangen. Eine schon gewordene, noch so kleine Schale kann von einem herankommenden Nachbar nicht aufgespeist werden, alles Gewordene setzt sich miteinander ins Gleichgewicht. Und so sieht man das in der Entenmuschel regelmäßig gebundene, gesetzliche Wachstum, in der andern zum freiern Nachrücken aufgefordert, wo mancher einzelne Punkt so viel Besitz und Raum sich anmaßt, als er nur gewinnen kann.

So viel aber ist auch bei diesem Naturprodukt mit Bewunderung zu bemerken: daß selbst die, gewissermaßen aufgelöste Regel doch im ganzen keine Verwirrung zur Folge hat, sondern daß die in lepas anatifera so löblich und gesetzlich entschiedenen Hauptpunkte des Werdens und Wirkens sich auch im polliceps genau nachweisen lassen, nur daß man sodann nach oben von Stelle zu Stelle kleine Welten sieht, die sich gegeneinander ausdehnen ohne hindern zu können, daß nach ihnen sich ihresgleichen, obgleich beengt und im geringeren Maßstabe, bilden und entwickeln.

Wer das Glück hätte, diese Geschöpfe im Augenblick, wenn das Ende des Schlauches sich ausdehnt, und die Schalenwerdung beginnt, mikroskopisch zu betrachten dem müßte eines der herrlichsten Schauspiele werden, die der Naturfreund sich wünschen kann. Da ich nach meiner Art zu forschen, zu wissen und zu genießen, mich nur an Symbole halten darf, so gehören diese Geschöpfe zu den Heiligtümern, welche fetischartig immer vor mir stehen und durch ihr seltsames Gebilde die nach dem Regellosen strebende, sich selbst immer regelnde und so im Kleinsten wie im Größten durchaus gott- und menschenähnliche Natur sinnlich vergegenwärtigen.