Goethes Naturwissenschaft: Aphorismen

[Urphänomen]

Das was wir in der Erfahrung gewahr worden, sind meistens nur Fälle, weiche sich mit einiger Aufmerksamkeit unter allgemeine empirische Rubriken bringen lassen. Diese subordinieren sich abermals unter wissenschaftliche Rubriken, welche weiter hinaufdeuten, wobei uns gewisse unerlässliche Bedingungen des Erscheinenden näher bekannt werden. Von nun an fügt sich alles nach und nach unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstande, sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren. Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erscheinung über ihnen liegt, sie aber dagegen völlig geeignet sind, dass man stufenweise, wie wir vorhin hinaufgestiegen, von ihnen herab bis zu dem gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung niedersteigen kann. Ein solches Urphänomen ist dasjenige, das wir bisher dargestellt haben. Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der andern die Finsternis, das Dunkle, wir bringen die Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mit Hilfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich, gleichfalls in einem Gegensatz, die Farben, deuten aber alsbald, durch einen Wechselbezug, unmittelbar auf ein Gemeinsames wieder zurück.

In diesem Sinne halten wir den in der Naturforschung begangenen Fehler für sehr gross, dass man ein abgeleitetes Phänomen an die obere Stelle, das Urphänomen an die niedere Stelle setzte, ja sogar das abgeleitete Phänomen wieder auf den Kopf stellte und an ihm das Zusammengesetzte für ein Einfaches, das Einfache für ein Zusammengesetztes gelten liess; durch welches Hinterstzuvörderst die wunderlichsten Verwicklungen und Verwirrungen in die Naturlehre gekommen sind, an welchen sie noch leidet.

Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt immer noch das Übel, dass man es nicht als ein solches anerkennen will, dass wir hinter ihm und über ihm noch etwas weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Grenze des Schauens eingestehen sollten. Der Naturforscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit dastehen, der Philosoph nehme sie in seine Region auf, und er wird finden, dass ihm nicht in einzelnen Fällen, allgemeinen Rubriken, Meinungen und Hypothesen, sondern im Grund- und Urphänomen ein würdiger Stoff zu weiterer Behandlung und Bearbeitung überliefert werde.

Das Schlimmste, was der Physik, sowie mancher andern Wissenschaft widerfahren kann, ist, dass man das Abgeleitete für das Ursprüngliche hält, und da man das Ursprüngliche aus Abgeleitetem nicht ableiten kann, das Ursprüngliche aus dem Abgeleiteten zu erklären sucht. Dadurch entsteht eine unendliche Verwirrung, ein Wortkram und eine fortdauernde Bemühung, Ausflüchte zu suchen und zu finden, wo das Wahre nur irgend hervortritt und mächtig werden will.

Indem sich der Beobachter, der Naturforscher auf diese Weise abquält, weil die Erscheinungen der Meinung jederzeit widersprechen, so kann der Philosoph mit einem falschen Resultate in seiner Sphäre noch immer operieren, indem kein Resultat so falsch ist, dass es nicht, als Form ohne allen Gehalt auf irgendeine Weise gelten könnte.

Kann dagegen der Physiker zur Erkenntnis desjenigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt haben, so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm; er, denn er überzeugt sich, dass er an die Grenze seiner Wissenschaft gelangt sei, dass er sich auf der empirischen Höhe befinde, wo er rückwärts die Erfahrung in allen ihren Stufen überschauen und vorwärts in das Reich der Theorie, wo nicht eintreten, doch einblicken könne. Der Philosoph ist geborgen. denn er nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes, das bei ihm nun ein Erstes wird. Er bekümmert sich nun mit Recht nicht mehr um die Erscheinung, wenn man darunter das Abgeleitete versteht, wie man es entweder schon wissenschaftlich zusammengestellt findet, oder wie es gar in empirischen Fällen zerstreut und verworren vor die Sinne tritt. Will er ja auch diesen Weg durchlaufen und einen Blick ins einzelne nicht verschmähen, so tut er es mit Bequemlichkeit, anstatt dass er bei anderer Behandlung sich entweder zu lange in den Zwischenregionen aufhält, oder sie nur flüchtig durchstreift, ohne sie genau kennen zu lernen.

Urphänomene: ideal, real, symbolisch, identisch.

Empirie: unbegrenzte Vermehrung derselben, Hoffnung der Hilfe daher, Verzweiflung an Vollständigkeit.

Urphänomen:

ideal als das letzte Erkennbare,
real als erkannt,
symbolisch, weil es alle Fälle begreift,

identisch mit allen Fällen.

Der Magnet ist ein Urphänomen, das man nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben; dadurch wird es dann auch ein Symbol für alles übrige, wofür wir keine Worte noch Namen zu suchen brauchen.

Das Eisen kennen wir als einen besondern, von andern unterschiedenen Körper; aber es ist ein gleichgültiges, uns nur in manchem Bezug und zu manchem Gebrauch merkwürdiges Wesen. Wie wenig aber bedarf es, und die Gleichgültigkeit dieses Körpers ist aufgehoben. Eine Entzweiung geht vor, die, indem sie sich wieder zu vereinigen strebt und sich selbst aufsucht, einen gleichsam magischen Bezug auf ihresgleichen gewinnt und diese Entzweiung, die doch nur wieder eine Vereinigung ist, durch ihr ganzes Geschlecht fortsetzt. Hier kennen wir das gleichgültige Wesen, das Eisen; wir sehen die Entzweiung an ihm entstehen, sich fortpflanzen und verschwinden, und sich leicht wieder aufs neue erregen – nach unserer Meinung ein Urphänomen, das unmittelbar an der Idee steht und nichts Irdisches über sich erkennt.

Merken wir ja darauf, unter den Phänomenen ist ein grosser Unterschied: das Urphänomen, das reinste, widerspricht sich nie in seiner ewigen Einfalt; das abgeleitete erduldet Stockungen, Friktionen und überliefert uns nur Undeutlichkeiten.

Bei denn Urphänomen zu verweilen und sich an demselben mit verehrender Resignation zu begnügen ist oft angeraten worden. Allein da tritt uns die neue Schwierigkeit entgegen, wo ruht denn eigentlich das Urphänomen, dass wir unsere Forschung dabei könnten beruhen lassen? Wir antworten darauf: in der allgemeinen Naturlehre sind die Urphänomene wohl zu finden, in der besondern sie zu bezeichnen möchte schwer werden.

Unsere Meinung ist: dass es dem Menschen gar wohl gezieme, ein Unerforschliches anzunehmen, dass er dagegen aber seinem Forschen keine Grenze zu setzen habe; denn wenn auch die Natur gegen den Menschen im Vorteil steht und ihm manches zu verheimlichen scheint, so steht er wieder gegen sie im Vorteil, dass er, wenn auch nicht durch sie durch, doch über sie hinaus denken kann. Wir sind aber schon weit genug gegen sie vorgedrungen, wenn wir zu den Urphänomenen gelangen, welche wir in ihrer unerforschlichen Herrlichkeit von Angesicht zu Angesicht anschauen, und uns sodann wieder rückwärts in die Welt der Erscheinungen wenden, wo das in seiner Einfalt Unbegreifliche sich in tausend und aber tausend mannigfaltigen Erscheinungen bei aller Veränderlichkeit unveränderlich offenbart.

Vor den Urphänomenen, wenn sie unseren Sinnen enthüllt erscheinen, fühlen wir eine Art von Scheu, bis zur Angst. Die sinnlichen Menschen retten sich ins Erstaunen; geschwind aber kommt der tätige Kuppler Verstand und will auf seine Weise das Edelste mit dem Gemeinsten vermitteln.

Das unmittelbare Gewahrwerden der Urphänomene versetzt uns in eine Art von Angst, wir fühlen unsere Unzulänglichkeit, nur durch das ewige Spiel der Empirie belebt erfreuen sie uns.

Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein grosser Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit

resigniere oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornierten Individuums.

Nicht alles Wünschenswerte ist erreichbar, nicht alles Erkennenswerte erkennbar.

Je weiter die Erfahrung fortrückt, desto näher kommt man dem Unerforschlichen; je mehr man die Erfahrung zu nutzen weiss, desto mehr sieht man, dass das Unerforschliche keinen praktischen Wert hat.

Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.

Derjenige, der sich mit Einsicht für beschränkt erklärt, ist der Vollkommenheit am nächsten.

Die wahre Vermittlerin ist die Kunst. Über Kunst sprechen heisst die Vermittlerin vermitteln wollen, und doch ist uns daher viel Köstliches erfolgt.

Es ist mit den Ableitungsgründen wie mit den Einteilungsgründen, sie müssen durchgehen oder es ist gar nichts dran.

Auch in Wissenschaften kann man eigentlich nichts wissen, es will immer getan sein.

Alles wahre Aperçu kommt aus einer Folge und bringt Folge. Es ist ein Mittelglied einer grossen, produktiv aufsteigenden Kette.

Die Wissenschaft hilft uns vor allein, dass sie das Staunen, wozu wir von Natur berufen sind, einigermassen erleichtere; sodann aber, dass sie dem immer gesteigerten Leben neue Fertigkeiten erwecke zu Abwendung des Schädlichen und Einleitung des Nutzbaren.

Man klagt über wissenschaftliche Akademien, dass sie nicht frisch genug ins Leben eingreifen: das liegt aber nicht an ihnen, sondern an der Art, die Wissenschaften zu behandeln, Überhaupt.

Wir leben in einer Zeit, wo wir uns täglich mehr angeregt fühlen, die beiden Welten, denen wir angehören, die obere und die untere, als verbunden zu betrachten, das Ideelle im Reellen anzuerkennen und unser jeweiliges Missbehagen mit dem Endlichen durch Erhebung ins Unendliche zu beschwichtigen. Die grossen Vorteile, die dadurch zu gewinnen sind, wissen wir unter den mannigfaltigsten Umständen zu schätzen und sie besonders auch den Wissenschaften und Künsten mit kluger Tätigkeit zuzuwenden.

Nachdem wir uns nun zu dieser Einsicht erhoben, so sind wir nicht mehr in dem Falle, bei Behandlung der Naturwissenschaften die Erfahrung der Idee entgegen zu setzen, wir gewöhnen uns vielmehr die Idee in der Erfahrung aufzusuchen, überzeugt, dass die Natur nach Ideen verfahre, ingleichen dass der Mensch in allem, was er beginnt, eine Idee verfolge. Wobei denn freilich zu bedenken ist, dass die Idee in ihrem Entspringen und ihrer Richtung vielfach erscheint und in diesem Sinne als von verschiedenem Werte geachtet werden könne.

Hier aber werden wir vor allen Dingen bekennen und aussprechen, dass wir mit Bewusstsein uns in der Region befinden, wo Metaphysik und Naturgeschichte übereinandergreifen, also da, wo der ernste, treue Forscher am liebsten verweilt. Denn hier wird er durch den Zudrang grenzenloser Einzelheiten nicht mehr geängstigt, weil er den hohen Einfluss der einfachsten Idee schätzen lernt, welche auf die verschiedenste Weise Klarheit und Ordnung dem Vielfältigsten zu verleihen geeignet ist.

Indern nun der Naturforscher sich in dieser Denkweise bestärkt, im höheren Sinne die Gegenstände betrachtet, so gewinnt er eine Zuversicht und kommt dadurch dem Erfahrenden entgegen, weicher nur mit gemessener Bescheidenheit ein Allgemeines anzuerkennen sich bequemt.

Er tut wohl, das Hypothese zu nennen, was schon gegründet ist; mit desto mehr freudiger Überzeugung findet auch er, dass hier ein wahres Übereintreffen stattfindet. Er fühlt es, wie wir es auch seinerzeit empfunden haben.

Im Gefolg hievon wird sich nun keine Spur von Widerstreit hervortun, nur eine Ausgleichung geringer Differenzen wird sich hie und da nötig machen, und beide Teile werden sich eines gemeinsamen Erfolges zu erfreuen haben.

Bei allem nun hat der treue Forscher sich selbst zu beobachten und zu sorgen, dass, wie er die Organe bildsam sieht, er sich auch die Art zu sehen bildsam erhalte, damit er nicht überall schroff bei einerlei Erklärungsweise verharre, sondern in jedem Falle die bequemsten der Ansicht, dem Anschauen analogste zu wählen verstehe.

Betrachten wir unserem nächsten Zwecke gemäss vor allem den Gewinn, weichen das Studium der organischen Wesen davon sich zueignet. Unser ganzes Geschäft ist nun, die einfachste Erscheinung als die mannigfaltigste, die Einheit als Vielheit zu denken. Schon früher sprachen wir getrost den Satz aus: alles Lebendige als ein solches ist schon ein Vieles, und mit diesen Worten glauben wir der Grundforderung des Denkens über diese Gegenstände genugzutun.

Dieses viele in einem sukzessiv und als eine Einschachtelung zu denken ist eine unvollkommene und der Einbildungskraft wie dem Verstand nicht gemässe Vorstellung, aber eine Entwicklung im höheren Sinne müssen wir zugeben: das viele im einzelnen, am einzelnen, und es setzt uns nicht mehr in Verlegenheit, wenn wir uns folgendermassen ausdrücken: das untere Lebendige sondere sich vom Lebendigen, das höhere Lebendige gliedere sich am Lebendigen, und da wird ein jedes Glied ein neues Lebendige.

Andere Anordnungen jedoch, die auf gewissen Teilen und Kennzeichen beruhend aus jener Art, die Sache zu nehmen, hervorgingen, konnten sich auch nicht erhalten, bis man endlich immer weiter zurück auf die ersten und ursprünglichen Organe zu gelangen trachtete und die Pflanze, wo nicht vor ihrer Entwicklung, doch wenigstens im Augenblick ihrer Entwicklung zu fassen anfing und nun fand, dass die ersten Organe derselben entweder nicht zu bemerken waren oder doppelt, einfach und mehr erschienen.

Hier war man nun bei der grossen Konsequenz der Natur auf dem rechten Wege, denn wie ein Wesen in seiner Erscheinung beginnt, so schreitet es fort und endigt auf gleiche Weise.

Hier musste nun um so mehr gelingen, einen sichern Grund zu legen, als zwar die eminenten, in die Augen fallenden Glieder zur Einteilung und Ordnung einigen Anlass geben, die Urglieder jedoch den besondern Vorteil haben, dass bei Beachtung derselben die Geschöpfe gleich in grosse Massen zerfallen, auch ihre Eigenschaften und Bezüge gründlicher anerkannt werden, wie denn in der neueren Zeit zum Vorteil der Wissenschaft ununterbrochen geschehen ist.

Es ist ein grosser Unterschied, ob ich mich aus dem Hellen ins Dunkle, oder aus dem Dunklen ins Helle bestrebe; ob ich, wenn die Klarheit mir nicht mehr zusagt, mich mit einer gewissen Dämmerung zu umhüllen trachte, oder ob ich in der Überzeugung, dass das Klare auf einem tiefen, schwer erforschten Grund ruhe, auch von diesem immer schwer auszusprechenden Grunde das Mögliche mit heraufzunehmen bedacht bin. Ich halte daher immer für vorteilhafter: der Naturforscher bekenne sogleich, dass er in einzelnen Fällen es zugibt, wo das Verschweigen nur allzudeutlich hervortritt.

Es ward von uns oben angedeutet, es müsse in dem Geiste eines wahren Naturforschers sich immerfort wechselsweise wie eine sich im Gleichgewicht bewegende Systole und Diastole ereignen, aber wir wollen nur gestehen genau bemerkt zu haben, dass die Analyse der Synthese und umgekehrt diese jener hinderlich ist, in, dem Grad dass eine die andere auszuschliessen scheint.

Dieses ins klare zu setzen, wäre für den Psychologen keine geringe Aufgabe, die, insofern es möglich wäre, gelöst beide Parteien über sich selbst aufklären und zu einer Versöhnung, vielleicht gar zu geselliger Mitarbeit die Einleitung geben könnte.

Weimar, den 3.November 1831

An allen Körpern, die wir lebendig nennen, bemerken wir die Kraft, ihresgleichen hervorzubringen.

Wenn wir diese Kraft geteilt gewahr werden, bezeichnen wir sie unter dem Namen der beiden Geschlechter.

Diese Kraft ist diejenige welche alle lebendigen Körper miteinander gemein haben, da sonst ihre Art zu sein sehr verschieden ist.

Poetische Metamorphosen

Phantasie ist der Natur viel näher als die Sinnlichkeit, diese ist in der Natur, jene schwebt über ihr. Phantasie ist der Natur gewachsen, Sinnlichkeit wird von ihr beherrscht.

Frühste lebhafte tüchtige Sinnlichkeit finden wir immer sich zur Phantasie erhebend. Sogleich wird sie produktiv, anthropomorphisch. Felsen und Ströme sind von Halbgöttern belebt, Untergötter endigen unterwärts in Tiere: Pan, Faune, Tritone. Götter nehmen Tiergestalt an, ihre Absichten zu erfüllen. Welche Fabeln sind die ältesten dieser Art?

Bei Ovid ist die Analogie der tierischen und menschlichen Glieder im Übergang trefflich ausgedrückt. Dante hat eine höchst merkwürdige Stelle dieser Art.