Briefwechsel über den Regenbogen

1. Goethe an Sulpiz -Boisserée

Für Ihren werten Brief im allgemeinen und zum allerschönsten dankend, will ich nur eiligst die wichtige Frage wegen des Regenbogens zu erwidern anfangen. Hier ist mit Worten nichts ausgerichtet, nichts mit Linien und Buchstaben; unmittelbare Anschauung ist not und eigenes Tun und Denken. Schaffen Sie sich also augenblicklich eine hohle Glaskugel a, etwa fünf Zoll, mehr oder weniger, im Durchmesser, wie sie Schuster und Schneider überall brauchen, um das Lampenlicht auf den Punkt ihrer Arbeit zu konzentrieren, füllen solche mit Wasser durch das Hälschen und verschließen sie durch den Stöpsel b, stellen sie auf ein festes Gestelle gegen ein verschlossenes Fenster d, treten alsdann mit dem Rücken gegen das Fenster gekehrt in e, etwas zur Seite, um das in der Rückseite der Kugel sich präsentierende umgekehrte verkleinerte Fensterbild zu schauen, fixieren solches und bewegen sich ganz wenig nach Ihrer rechten Hand zu,

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wo Sie denn sehen werden, daß die Glastafeln zwischen den Fensterleisten sich verengen und zuletzt, von den dunkeln Kreuzen völlig zusammengedrängt, mit einer schon vorher bemerkbaren Farbenerscheinung verschwinden, und zwar ganz am äussersten Rande g, die rote Farbe glänzend zuletzt.

Diese Kugel entfernen Sie nicht aus Ihrer Gegenwart, sondern betrachten sie hin- und hergehend beim hellsten Sonnenschein, abends bei Licht; immer werden Sie finden, daß ein gebrochenes Bild an der einen Seite der Kugel sich abspiegelt und so, nach innen gefärbt, sich, wie Sie Ihr Auge nach dem Rande zu bewegen, verengt und bei nicht ganz deutlichen mittlern Farben entschieden rot verschwindet.

Es ist also ein Bild und immer ein Bild, welches refrangiert und bewegt werden muß; die Sonne selbst ist hier weiter nichts als ein Bild. Von Strahlen ist gar die Rede nicht; sie sind eine Abstraktion, die erfunden wurde, um das Phänomen in seiner größten Einfalt allenfalls darzustellen, von welcher Abstraktion aber fortoperiert, auf welche weiter gebaut oder vielmehr aufgehäuft, die Angelegenheit zuletzt ins Unbegreifliche gespielt worden. Man braucht die Linien zu einer Art von mathematischer Demonstration; sie sagen aber wenig oder gar nichts, weil von Massen und Bildern die Rede ist, wie man sie nicht darstellen und also im Buche nicht brauchen kann.

Haben Sie das angegebene ganz einfache Experiment recht zu Herzen genommen, so schreiben Sie mir, auf welche Weise es Ihnen zusagt, und wir wollen sehen, wie wir immer weiter schreiten, bis wir es endlich im Regenbogen wiederfinden.

Mehr nicht für heute, damit Gegenwärtiges als das Notwendigste nicht aufgehalten werde.

Weimar, den 11. Januar 1832