Briefwechsel über den Regenbogen

3. Goethe an Sulpiz Boisserée

Es ist ein großer Fehler, dessen man sich bei der Naturforschung schuldig macht, wenn wir hoffen, ein kompliziertes Phänomen als solches erklären zu können, da schon viel dazu gehört, dasselbe auf seine ersten bringen; es aber durch alle verwickelter Fälle mit eben der Klarheit durchführen zu wollen, ist ein vergebenes Bestreben. Wir müssen einsehen lernen, daß wir dasjenige, was wir im Einfachsten geschaut und erkannt, im Zusammengesetzten supponieren und glauben müssen. Denn das Einfache verbirgt sich im Mannigfaltigen, und da ist’s, wo bei mir der Glaube eintritt, der nicht der Anfang, sondern das Ende alles Wissens ist.

Der Regenbogen ist ein Refraktionsfall und vielleicht der komplizierteste von allen, wozu sich noch Reflexion gesellt. Wir können uns also sagen, daß das Besondere dieser Erscheinung alles, was von dem Allgemeinen der Refraktion und Reflexion erkennbar ist, enthalten muss.

Nehmen Sie ferner das Heft meiner Tafeln (Farbenlehre) und deren Erklärung vor sich und betrachten auf der zweiten die vier Figuren in der obersten Reihe, bezeichnet mit A, B, C, D. Lesen Sie, was Seite 744 zur Erklärung gesagt ist, und gehen Sie nun drauf los, sich mit diesen Anfängen völlig zu befreunden. Und zwar würde ich vorschlagen, zuerst die objektiven Versuche bei durchfallendem Sonnenlichte vorzunehmen.

Versehen Sie sich mit verschiedenen Linsen, besonders von bedeutendem Durchmesser und ziemlich ferner Brennweite, so werden Sie, wenn Sie Lichtmasse hindurch und auf ein Papier fallen lassen, sehen, wie sich ein abgebildeter Kreis verengt und einen gelben, zunächst am Dunklen einen gelbroten Saum erzeugt. Wie Sie nun die Erscheinung näher betrachten, so bemerken Sie, daß sich ein sehr heller Kreis an den farbigen anschließt, aus der Mitte des Bildes jedoch sich ein graulich dunkler Raum entwickelt. Dieser läßt nun nach dem Hellen zu einen blauen Saum sehen, welcher violett das mittlere Dunkel umgrenzt, welches sich hinter der Fokus über das ganze Feld ausbreitet und durchaus blau gesäumt erscheint.

Lassen Sie sich diese Phänomene auf das wiederholteste angelegen sein, so werden Sie alsdann weiteren Fortschritten hingerissen werden.

Hängen Sie nunmehr Ihre mit Wasser gefüllte Kugel (die Sie als eine gesetzlich aufgeblasene Linse ansehen können) ins freie Sonnenlicht, stellen Sie sich alsdann, gerade wie in meiner Zeichnung des ersten Versuchs angegeben ist, schauen Sie in die Kugel, so werden Sie statt jenes reflektierten Fensters die auf die Kugel fallende Lichtmasse in einen Kreis zusammengezogen sehen, indessen derselbige Kreis durch das Glas durchgeht, um hinter der äussern Fläche einen Brennpunkt zu suchen. Der Kreis aber innerhalb der Kugel, welcher durch Reflexion und Refraktion nunmehr in Ihr Auge kommt, ist der eigentliche Grund jener Zurückstrahlung, wodurch der Regenbogen möglich werden soll.

Bewegen Sie sich nunmehr, wie in den andern bisherigen Fällen, so werden Sie bemerken, daß, indem Sie eine schiefere Stellung annehmen, der Kreis sich nach und nach oval macht, bis er sich dergestalt zusammenzieht, daß er Ihnen zuletzt auf der Seite sichtbar zu werden scheint und endlich als ein roter Punkt verschwindet. Zugleich, wenn Sie aufmerksam sind, werden Sie bemerken, daß das Innere dieses rotgesäumten Kreises dunkel ist und mit einem blauvioletten Saum, welcher mit dem Gelben des äußeren Kreises zusammentreffend zuerst das Grüne hervorbringt, sich sodann als Blau manifestiert und zuletzt bei völligem Zusammendrängen als Rot erscheint.

Dabei müssen Sie sich nicht irre machen lassen, daß noch ein paar kleine Sonnenbilder sich an den Rand des Kreises gesellen, die ebenfalls ihre kleineren Höfe um sich haben, die denn auch bei oben bemerktem Zusammenziehen ihr Farbenspiel gleichfalls treiben und deren zusammengedrängte Kreise, als an ihren nach außen gekehrten halben Rändern gleichfalls rot, das Rot des Hauptkreises kurz vor dem Verschwinden noch erhöhen müssen. Haben Sie alles dieses sich bekannt und durch wiederholtes Schauen ganz zu eigen gemacht, so werden Sie finden, daß doch noch nicht alles getan ist, wobei ich denn auf den allgemein betrachtenden Anfang meiner unternommenen Mitteilung hinweisen muß, Ihnen Gegenwärtiges zur Beherzigung und Ausübung bestens empfehlend, worauf wir denn nach und nach in unsern Andeutungen fortzufahren und des eigentlichen reinen Glaubens uns immer würdiger zu machen suchen werden.

Nun aber denken Sie nicht, daß Sie diese Angelegenheit jemals los werden. Wenn sie Ihnen das ganze Leben über zu schaffen macht, müssen Sie sich‘s gefallen lassen. Entfernen Sie die Kugel den Sommer über nicht aus Ihrer Nähe, wiederholen Sie an ihr die sämtlichen Erfahrungen, auch jene mit Linsen und Prismen: es ist immer eins und ehendasselbe, das aber in Labyrinthen Versteckens spielt, wenn wir täppisch, hypothetisch, mathematisch, linearisch, angularisch darnach zu greifen wagen. Ich kehre zu meinem Anfang zurück und spreche noch aus, wie folgt.

Ich habe immer gesucht, das möglichst Erkennbare, Wißbare, Anwendbare zu ergreifen, und habe es zu eigener Zufriedenheit, ja auch zu Billigung anderer darin weit gebracht. Hiedurch bin ich für mich an die Grenze gelangt, dergestalt daß ich da anfange zu glauben, wo andere verzweifeln, und zwar diejenigen, die vom Erkennen zu viel verlangen und, wenn sie nur ein gewisses dem Menschen Beschiedenes erreichen können, die größten Schätze der Menschheit für nichts achten. So wird man aus dem Ganzen ins Einzelne und aus dem Einzelnen ins Ganze getrieben, man mag wollen oder nicht.

Für freundliche Teilnahme dankbar, fortgesetzte Geduld wünschend, ferneres Vertrauen hoffend.

Weimar, den 25. Februar 1832