Goethes Farbenlehre: Sechste Abteilung

SINNLICH-SITTLICHE WIRKUNG DER FARBE

Da die Farbe in der Reihe der uranfänglichen Naturerscheinungen einen so hohen Platz behauptet, indem sie den ihr angewiesenen einfachen Kreis mit entschiedener Mannigfaltigkeit ausfüllt, so werden wir uns nicht wundern, wenn wir erfahren, dass sie auf den Sinn des Auges, dem sie vorzüglich zugeeignet ist, und durch dessen Vermittelung auf das Gemüt in ihren allgemeinsten elementaren Erscheinungen, ohne Bezug auf Beschaffenheit oder Form eines Materials, an dessen Oberfläche wir sie gewahr werden, einzeln eine spezifische, in Zusammenstellung eine teils harmonische, teils charakteristische, oft auch unharmonische, immer aber eine entschiedene und bedeutende Wirkung hervorbringe, die sich unmittelbar an das Sittliche anschließt. Deshalb denn Farbe, als ein Element der Kunst betrachtet, zu den höchsten ästhetischen Zwecken mitwirkend genutzt werden kann.

759. Die Menschen empfinden im allgemeinen eine große Freude an der Farbe. Das Auge bedarf ihrer, wie es des Lichtes bedarf. Man erinnre sich der Erquickung, wenn an einem trüben Tage die Sonne auf einen einzelnen Teil der Gegend scheint und die Farben daselbst sichtbar macht. Daß man den farbigen Edelsteinen Heilkräfte zuschrieb, mag aus dem tiefen Gefühl dieses unaussprechlichen Behagens entstanden sein.

760. Die Farben, die wir an den Körpern erblicken, sind nicht etwa dem Auge ein völlig Fremdes, wodurch es erst zu dieser Empfindung gleichsam gestempelt würde; nein. Dieses Organ ist immer in der Disposition, selbst Farben hervorzubringen, und genießt einer angenehmen Empfindung, wenn etwas der eignen Natur Gemäßes ihm von außen gebracht wird, wenn seine Bestimmbarkeit nach einer gewissen Seite hin bedeutend bestimmt wird.

761. Aus der Idee des Gegensatzes der Erscheinung, aus der Kenntnis, die wir von den besondern Bestimmungen desselben erlangt haben, können wir schließen, daß die einzelnen Farbeindrücke nicht verwechselt werden können, daß sie spezifisch wirken, und entschieden spezifische Zustände in dem lebendigen Organ hervorbringen müssen.

762. Eben auch so in dem Gemüt. Die Erfahrung lehrt uns, daß die einzelnen Farben besondre Gemütsstimmungen geben. Von einem geistreichen Franzosen wird erzählt: Il prétendoit que son ton de conversation avec Madame étoit changé depuis qu’elle avoit changé en cramoisi le meuble de son cabinet qui étoit bleu.

763. Diese einzelnen bedeutenden Wirkungen vollkommen zu empfinden, muß man das Auge ganz mit einer Farbe umgeben, zum Beispiel in einem einfarbigen Zimmer sich befinden, durch ein farbiges Glas sehen. Man identifiziert sich alsdann mit der Farbe; sie stimmt Auge und Geist mit sich unisono.

764. Die Farben von der Plusseite sind Gelb, Rotgelb (Orange), Gelbrot (Mennig, Zinnober). Sie stimmen regsam, lebhaft, strebend.

Gelb

765. Es ist die nächste Farbe am Licht. Sie entsteht durch die gelindeste Mäßigung desselben, es sei durch trübe Mittel oder durch schwache Zurückwerfung von weißen Flächen. Bei den prismatischen Versuchen erstreckt sie sich allein breit in den lichten Raum und kann dort, wenn die beiden Pole noch abgesondert voneinander stehen, ehe sie sich mit dem Blauen zum Grünen vermischt, in ihrer schönsten Reinheit gesehen werden. Wie das chemische Gelb sich an und über dem Weißen entwickelt, ist gehörigen Orts umständlich vorgetragen worden.

766. Sie führt in ihrer höchsten Reinheit immer die Natur des Hellen mit sich und besitzt eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft.

767. In diesem Grade ist sie als Umgebung, es sei als Kleid, Vorhang, Tapete, angenehm. Das Gold in seinem ganz ungemischten Zustande gibt uns, besonders wenn der Glanz hinzukommt, einen neuen und hohen Begriff von dieser Farbe; so wie ein starkes Gelb, wenn es auf glänzender Seide, zum Beispiel auf Atlas erscheint, eine prächtige und edle Wirkung tut.

768. So ist es der Erfahrung gemäß, daß das Gelbe einen durchaus warmen und behaglichen Eindruck mache. Daher es auch in der Malerei der beleuchteten und wirksamen Seite zukommt.

769. Diesen erwärmenden Effekt kann man am lebhaftesten bemerken, wenn man durch ein gelbes Glas, besonders in grauen Wintertagen, eine Landschaft ansieht. Das Auge wird erfreut, das Herz ausgedehnt, das Gemüt erheitert; eine unmittelbare Wärme scheint uns anzuwehen.

770. Wenn nun diese Farbe, in ihrer Reinheit und hellem Zustande angenehm und erfreulich, in ihrer ganzen Kraft aber etwas Heiteres und Edles hat, so ist sie dagegen äußerst empfindlich und macht eine sehr unangenehme Wirkung, wenn sie beschmutzt oder einigermaßen ins Minus gezogen wird. So hat die Farbe des Schwefels, die ins Grüne fällt, etwas Unangenehmes.

771. Wenn die gelbe Farbe unreinen und unedlen Oberflächen mitgeteilt wird, wie dem gemeinen Tuch, dem Filz und dergleichen, worauf sie nicht mit ganzer Energie erscheint, entsteht eine solche unangenehme Wirkung. Durch eine geringe und unmerkliche Bewegung wird der schöne Eindruck des Feuers und Goldes in die Empfindung des Kotigen verwandelt, und die Farbe der Ehre und Wonne zur Farbe der Schande, des Abscheus und Mißbehagens umgekehrt. Daher mögen die gelben Hüte der Bankerottierer, die gelben Ringe auf den Mänteln der Juden entstanden sein; ja die sogenannte Hahnreifarbe ist eigentlich nur ein schmutziges Gelb.

Gelbrot

772. Da sich keine Farbe als stillstehend betrachten läßt, so kann man das Gelbe sehr leicht durch Verdichtung und Verdunklung ins Rötliche steigern und erheben. Die Farbe wächst an Energie und erscheint im Rotgelben mächtiger und herrlicher.

773. Alles was wir vom Gelben gesagt haben, gilt auch hier, nur im hohem Grade. Das Rotgelbe gibt eigentlich dem Auge das Gefühl von Wärme und Wonne, indem es die Farbe der höhern Glut sowie den mildern Abglanz der untergehenden Sonne repräsentiert. Deswegen ist sie auch bei Umgebungen angenehm und als Kleidung in mehr oder minderm Grade erfreulich oder herrlich. Ein kleiner Blick ins Rote gibt dem Gelben gleich ein ander Ansehn; und wenn Engländer und Deutsche sich noch an blaßgelben hellen Lederfarben genügen lassen, so liebt der Franzose, wie Pater Castel schon bemerkt, das ins Rot gesteigerte Gelb, wie ihn überhaupt an Farben alles freut, was sich auf der aktiven Seite befindet.

Rotgelb

774. Wie das reine Gelb sehr leicht in das Rotgelbe hinübergeht, so ist die Steigerung dieses letzten ins Gelbrote nicht aufzuhalten. Das angenehme heitre Gefühl, das uns das Rotgelbe noch gewährt, steigert sich bis zum unerträglich Gewaltsamen im hohen Gelbroten.

775. Die aktive Seite ist hier in ihrer höchsten Energie, und es ist kein Wunder, daß energische, gesunde, rohe Menschen sich besonders an dieser Farbe erfreuen. Man hat die Neigung zu derselben bei wilden Völkern durchaus bemerkt. Und wenn Kinder, sich selbst überlassen, zu illuminieren anfangen, so werden sie Zinnober und Mennig nicht schonen.

776. Man darf eine vollkommen gelbrote Fläche starr ansehen, so scheint sich die Farbe wirklich ins Organ zu bohren. Sie bringt eine unglaubliche Erschütterung hervor und behält diese Wirkung bei einem ziemlichen Grade von Dunkelheit.

Die Erscheinung eines gelbroten Tuches beunruhigt und erzürnt die Tiere. Auch habe ich gebildete Menschen gekannt, denen es unerträglich fiel, wenn ihnen an einem sonst grauen Tage jemand im Scharlachrock begegnete.

777. Die Farben von der Minusseite sind Blau, Rotblau und Blaurot. Sie stimmen zu einer unruhigen, weichen und sehnenden Empfindung.

Blau

778. So wie Gelb immer ein Licht mit sich führt, so kann man sagen, daß Blau immer etwas Dunkles mit sich führe.

779. Diese Farbe macht für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche Wirkung. Sie ist als Farbe eine Energie; allein sie steht auf der negativen Seite und ist in ihrer höchsten Reinheit gleichsam ein reizendes Nichts. Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe im Anblick.

780. Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen.

781. Wie wir einen angenehmen Gegenstand, der vor uns flieht, gern verfolgen, so sehen wir das Blaue gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht.

782. Das Blaue gibt uns ein Gefühl von Kälte, so wie es uns auch an Schatten erinnert. Wie es vom Schwarzen abgeleitet sei, ist uns bekannt.

783. Zimmer, die rein blau austapeziert sind, erscheinen gewissermaßen weit, aber eigentlich leer und kalt.

784. Blaues Glas zeigt die Gegenstände im traurigen Licht.

785. Es ist nicht unangenehm, wenn das Blau einigermaßen vom Plus partizipiert. Das Meergrün ist vielmehr eine liebliche Farbe.

Rotblau

786. Wie wir das Gelbe sehr bald in einer Steigerung gefunden haben, so bemerken wir auch bei dem Blauen dieselbe Eigenschaft.

787. Das Blaue steigert sich sehr sanft ins Rote und erhält dadurch etwas Wirksames, ob es sich gleich auf der passiven Seite befindet. Sein Reiz ist aber von ganz andrer Art als der des Rotgelben. Er belebt nicht sowohl, als daß er unruhig macht.

788. So wie die Steigerung selbst unaufhaltsam ist, so wünscht man auch mit dieser Farbe immerfort zu gehen, nicht aber, wie beim Rotgelben, immer tätig vorwärts zu schreiten, sondern einen Punkt zu finden, wo man ausruhen könnte.

789. Sehr verdünnt kennen wir die Farbe unter dem Namen Lila; aber auch so hat sie etwas Lebhaftes ohne Fröhlichkeit.

Blaurot

790. jene Unruhe nimmt bei der weiter schreitenden Steigerung zu, und man kann wohl behaupten, daß eine Tapete von einem ganz reinen gesättigten Blaurot eine Art von unerträglicher Gegenwart sein müsse. Deswegen es auch, wenn es als Kleidung, Band, oder sonstiger Zierrat vorkommt, sehr verdünnt und hell angewendet wird, da es denn seiner bezeichneten Natur nach einen ganz besondern Reiz ausübt.

791. Indem die hohe Geistlichkeit diese unruhige Farbe sich angeeignet hat, so dürfte man wohl sagen, daß sie auf den unruhigen Staffeln einer immer vordringenden Steigerung unaufhaltsam zu dem Kardinalpurpur hinaufstrebe.

Rot

792. Man entferne bei dieser Benennung alles, was im Roten einen Eindruck von Gelb oder Blaumachen könnte. Man denke sich ein ganz reines Rot, einen vollkommenen, auf einer weißen Porzellanschale aufgetrockneten Karmin. Wir haben diese Farbe ihrer hohen Würde wegen manchmal Purpur genannt ob wir gleichwohl wissen, daß der Purpur der Alten sich mehr nach der blauen Seite hinzog.

793. Wer die prismatische Entstehung des Purpurs kennt, der wird nicht paradox finden, wenn wir behaupten, daß diese Farbe teils actu, teils potentia alle andern Farben enthalte.

794. Wenn wir beim Gelben und Blauen eine strebende Steigerung ins Rote gesehen und dabei unsre Gefühle bemerkt haben, so läßt sich denken, daß nun in der Vereinigung der gesteigerten Pole eine eigentliche Beruhigung, die wir eine ideale Befriedigung nennen möchten, stattfinden könne. Und so entsteht bei physischen ‚Phänomenen diese höchste aller Farbenerscheinungen aus dem Zusammentreten zweier entgegengesetzten Enden, die sich zu einer Vereinigung nach und nach selbst vorbereitet haben.

795. Als Pigment hingegen erscheint sie uns als ein Fertiges und als das vollkommenste Rot in der Cochenille, welches Material jedoch durch chemische Behandlung bald ins Plus, bald ins Minus zu führen ist und allenfalls im besten Karmin als völlig im Gleichgewicht stehend angesehen werden kann.

796. Die Wirkung dieser Farbe ist so einzig wie ihre Natur. Sie gibt einen Eindruck sowohl von Ernst und Würde als von Huld und Anmut. jenes leistet sie in ihrem dunklen verdichteten, dieses in ihrem hellen verdünnten Zustande. Und so kann sich die Würde des Alters und die Liebenswürdigkeit der Jugend in eine Farbe kleiden.

797. Von der Eifersucht der Regenten auf den Purpur erzählt uns die Geschichte manches. Eine Umgebung von dieser Farbe ist immer ernst und prächtig.

798. Das Purpurglas zeigt eine wohlerleuchtete Landschaft in furchtbarem Lichte. So müßte der Farbeton über Erd‘ und Himmel am Tage des Gerichts ausgebreitet sein.

799. Da die beiden Materialien, deren sich die Färberei zur Hervorbringung dieser Farbe vorzüglich bedient, der Kermes und die Cochenille, sich mehr oder weniger zum Plus und Minus neigen, auch sich durch Behandlung mit Säuren und Alkalien herüber und hinüber führen lassen: so ist zu bemerken, daß die Franzosen sich auf der wirksamen Seite halten, wie der französische Scharlach zeigt, welcher ins Gelbe zieht; die Italiener hingegen auf der passiven Seite verharren, so daß ihr Scharlach eine Ahndung von Blau behält.

800. Durch eine ähnliche alkalische Behandlung entsteht das Karmesin, eine Farbe, die den Franzosen sehr verhaßt sein muß, da sie die Ausdrücke sot en cramoisi, méchant en cramoisi als das Äußerste des Abgeschmackten und Bösen bezeichnen.

Grün

801. Wenn man Gelb und Blau, welche wir als die ersten und einfachsten Farben ansehen, gleich bei ihrem ersten Erscheinen, auf der ersten Stufe ihrer Wirkung zusammenbringt, so entsteht diejenige Farbe, welche wir Grün nennen.

802. Unser Auge findet in derselben eine reale Befriedigung. Wenn beide Mutterfarben sich in der Mischung genau das Gleichgewicht halten, dergestalt, daß keine vor der andern bemerklich ist, so ruht das Auge und das Gemüt auf diesem Gemischten wie auf einem Einfachen. Man will nicht weiter und man kann nicht weiter. Deswegen für Zimmer, in denen man sich immer befindet, die grüne Farbe zur Tapete meist gewählt wird.

Totalität und Harmonie

803. Wir haben bisher zum Behuf unsres Vortrages angenommen, daß das Auge genötigt werden könne, sich mit irgendeiner einzelnen Farbe zu identifizieren; allein dies möchte wohl nur auf einen Augenblick möglich sein.

804. Denn wenn wir uns von einer Farbe umgeben sehen, welche die Empfindung ihrer Eigenschaft in unserm Auge erregt und uns durch ihre Gegenwart nötigt, mit ihr in einem identischen Zustande zu verharren, so ist es eine gezwungene Lage, in welcher das Organ ungern verweilt.

805. Wenn das Auge die Farbe erblickt, so wird es gleich in Tätigkeit gesetzt, und es ist seiner Natur gemäß, auf der Stelle eine andre, so unbewußt als notwendig, hervorzubringen, welche mit der gegebenen die Totalität des ganzen Farbenkreises enthält. Eine einzelne Farbe erregt in dem Auge, durch eine spezifische Empfindung, das Streben nach Allgemeinheit.

806. Um nun diese Totalität gewahr zu werden, um sich selbst zu befriedigen, sucht es neben jedem farbigen Raum einen farblosen, um die geforderte Farbe an demselben hervorzubringen.

807. Hier liegt also das Grundgesetz aller Harmonie der Farben, wovon sich jeder durch eigene Erfahrung überzeugen kann, indem er sich mit den Versuchen, die wir in der Abteilung der physiologischen Farben angezeigt, genau bekannt macht.

808. Wird nun die Farbentotalität von außen dem Auge als Objekt gebracht, so ist sie ihm erfreulich, weil ihm die Summe seiner eignen Tätigkeit als Realität entgegen kommt. Es sei also zuerst von diesen harmonischen Zusammenstellungen die Rede.

809. Um sich davon auf das leichteste zu unterrichten, denke man sich in dem von uns angegebenen Farbenkreise einen beweglichen Diameter und führe denselben im ganzen Kreise herum, so werden die beiden Enden nach und nach die sich fordernden Farben bezeichnen, welche sich denn freilich zuletzt auf drei einfache Gegensätze zurückführen lassen.

810.

Gelb fordert RotblauBlau fordert Rotgelb

Purpur fordert Grün

und umgekehrt.

811. Wie der von uns supponierte Zeiger von der Mitte der von uns naturgemäß geordneten Farben wegrückt, ebenso rückt er mit dem andern Ende in der entgegengesetzten Abstufung weiter, und es läßt sich durch eine solche Vorrichtung zu einer jeden fordernden Farbe die geforderte bequem bezeichnen. Sich hiezu einen Farbenkreis zu bilden, der nicht wie der unsre abgesetzt, sondern in einem stetigen Fortschritte die Farben und ihre Übergänge zeigte, würde nicht unnütz sein. denn wir stehen hier auf einem sehr wichtigen Punkt, der alle unsre Aufmerksamkeit verdient.

812. Wurden wir vorher bei dem Beschauen einzelner Farben gewissermaßen pathologisch affiziert, indem wir zu einzelnen Empfindungen fortgerissen, uns bald lebhaft und strebend, bald weich und sehnend, bald zum Edlen emporgehoben, bald zum Gemeinen herabgezogen fühlten, so führt uns das Bedürfnis nach Totalität, welches unserm Organ eingeboren ist, aus dieser Beschränkung heraus; es setzt sich selbst in Freiheit, indem es den Gegensatz des ihm aufgedrungenen einzelnen und somit eine befriedigende Ganzheit hervorbringt.

813. So einfach also diese eigentlich harmonischen Gegensätze sind, welche uns in dem engen Kreise gegeben werden, so wichtig ist der Wink, daß uns die Natur durch Totalität zur Freiheit heraufzuheben angelegt ist, und daß wir diesmal eine Naturerscheinung zum ästhetischen Gebrauch unmittelbar überliefert erhalten.

814. Indern wir also aussprechen können, daß der Farbenkreis, wie wir ihn angegeben, auch schon dem Stoff nach eine angenehme Empfindung hervorbringe, ist es der Ort zu gedenken, daß man bisher den Regenbogen mit Unrecht als ein Beispiel der Farbentotalität angenommen. denn es fehlt demselben die Hauptfarbe, das reine Rot, der Purpur, welcher nicht entstehen kann, da sich bei dieser Erscheinung sowenig als bei dem hergebrachten prismatischen Bilde das Gelbrot und Blaurot zu erreichen vermögen.

815. Überhaupt zeigt uns die Natur kein allgemeines Phänomen, wo die Farbentotalität völlig beisammen wäre. Durch Versuche läßt sich ein solches in seiner vollkommnen Schönheit hervorbringen. Wie sich aber die völlige Erscheinung im Kreise zusammenstellt, machen wir uns am besten durch Pigmente auf Papier begreiflich, bis wir, bei natürlichen Anlagen und nach mancher Erfahrung und Übung, uns endlich von der Idee dieser Harmonie völlig penetriert und sie uns im Geiste gegenwärtig fühlen.

Charakteristische Zusammenstellungen

816. Außer diesen rein harmonischen, aus sich selbst entspringenden Zusammenstellungen, welche immer Totalität mit sich führen, gibt es noch andre, welche durch Willkür hervorgebracht werden und die wir dadurch am leichtesten bezeichnen, daß sie in unserm Farbenkreise nicht nach Diametern, sondern nach Chorden aufzufinden sind, und zwar zuerst dergestalt, daß eine Mittelfarbe übersprungen wird.

817. Wir nennen diese Zusammenstellungen charakteristisch, weil sie sämtlich etwas Bedeutendes haben, das sich uns mit einem gewissen Ausdruck aufdringt, aber uns nicht befriedigt, indem jedes Charakteristische nur dadurch entsteht, daß es als Teil aus einem Ganzen heraustritt, mit welchem es ein Verhältnis hat, ohne sich darin aufzulösen.

818. Da wir die Farben in ihrer Entstehung sowie deren harmonische Verhältnisse kennen, so läßt sich erwarten, daß auch die Charaktere der willkürlichen Zusammenstellungen von der verschiedensten Bedeutung sein werden. Wir wollen sie einzeln durchgehen.

Gelb und Blau

819. Dieses ist die einfachste von solchen Zusammenstellungen. Man kann sagen, es sei zu wenig in ihr: denn da ihr jede Spur von Rot fehlt, so geht ihr zu viel von der Totalität ab. In diesem Sinne kann man sie arm und, da die beiden Pole auf ihrer niedrigsten Stufe stehn, gemein nennen. Doch hat sie den Vorteil, daß sie zunächst am Grünen und also an der realen Befriedigung steht.

Gelb und Purpur

820. Hat etwas Einseitiges, aber Heiteres und Prächtiges. Man sieht die beiden Enden der tätigen Seite nebeneinander, ohne daß das stetige Werden ausgedrückt sei.

Da man aus ihrer Mischung durch Pigmente das Gelbrote erwarten kann, so stehn sie gewissermaßen anstatt dieser Farbe.

Blau und Purpur

821. Die beiden Enden der passiven Seite mit dem Übergewicht des obern Endes nach dem aktiven zu. Da durch Mischung beider das Blaurote entsteht, so wird der Effekt dieser Zusammenstellung sich auch gedachter Farbe nähern.

Gelbrot und Blaurot

822. haben zusammengestellt, als die gesteigerten Enden der beiden Seiten, etwas Erregendes, Hohes. Sie geben uns die Vorahndung des Purpurs, der bei physikalischen Versuchen aus ihrer Vereinigung entsteht.

823. Diese vier Zusammenstellungen haben also das Gemeinsame, daß sie, vermischt, die Zwischenfarben unseres Farbenkreises hervorbringen würden, wie sie auch schon tun, wenn die Zusammenstellung aus kleinen Teilen besteht und aus der Ferne betrachtet wird. Eine Fläche mit schmalen blauen und gelben Streifen erscheint in einiger Entfernung grün.

824. Wenn nun aber das Auge Blau und Gelb nebeneinander sieht, so befindet es sich in der sonderbaren Bemühung, immer Grün hervorbringen zu wollen, ohne damit zustande zu kommen und ohne also im einzelnen Ruhe, oder im ganzen Gefühl der Totalität bewirken zu können.

825. Man sieht also, daß wir nicht mit Unrecht diese Zusammenstellungen charakteristisch genannt haben, so wie denn auch der Charakter einer jeden sich auf den Charakter der einzelnen Farben, woraus sie zusammengestellt ist, beziehen muß.

Charakterlose Zusammenstellungen

826. Wir wenden uns nun zu der letzten Art der Zusammenstellungen, welche sich aus dem Kreise leicht herausfinden lassen. Es sind nämlich diejenigen, welche durch kleinere Chorden angedeutet werden, wenn man nicht eine ganze Mittelfarbe, sondern nur den Übergang aus einer in die andere überspringt.

827. Man kann diese Zusammenstellungen wohl die charakterlosen nennen, indem sie zu nahe aneinander liegen‘ als daß ihr Eindruck bedeutsam werden könnte. Doch behaupten die meisten immer noch ein gewisses Recht, da sie ein Fortschreiten andeuten, dessen Verhältnis aber kaum fühlbar werden kann.

828. So drücken Gelb und Gelbrot, Gelbrot und Purpur, Blau und Blaurot, Blaurot und Purpur die nächsten Stufen der Steigerung und Kulmination aus und können in gewissen Verhältnissen der Massen keine üble Wirkung tun.

829. Gelb und Grün hat immer etwas Gemein-Heiteres, Blau und Grün aber immer etwas Gemein-Widerliches, deswegen unsre guten Vorfahren diese letzte Zusammenstellung auch Narrenfarbe genannt haben.

Bezug der Zusammenstellungen zu Hell und Dunkel

830. Diese Zusammenstellungen können sehr vermannigfaltigt werden, indem man beide Farben hell, beide Farben dunkel, eine Farbe hell, die andre dunkel zusammenbringen kann; wobei jedoch, was im Allgemeinen gegolten hat, in jedem besondern Falle gelten muß. Von dem unendlich Mannigfaltigen, was dabei stattfindet, erwähnen wir nur folgendes.

831. Die aktive Seite, mit dem Schwarzen zusammengestellt, gewinnt an Energie, die passive verliert. Die aktive, mit dem Weißen und Hellen zusammengebracht, verliert an Kraft, die passive gewinnt an Heiterkeit. Purpur und Grün mit Schwarz sieht dunkel und düster, mit Weiß hingegen erfreulich aus.

832. Hierzu kommt nun noch, daß alle Farben mehr oder weniger beschmutzt, bis auf einen gewissen Grad unkenntlich gemacht, und so teils unter sich selbst, teils mit reinen Farben zusammengestellt werden können, wodurch zwar die Verhältnisse unendlich variiert werden, wobei aber doch alles gilt, was von den reinen gegolten hat.

Historische Betrachtungen

833. Wenn in dem Vorhergehenden die Grundsätze der Farbenharmonie vorgetragen worden, so wird es nicht zweckwidrig sein, wenn wir das dort Ausgesprochene in Verbindung mit Erfahrungen und Beispielen nochmals wiederholen.

834. jene Grundsätze waren aus der menschlichen Natur und aus den anerkannten Verhältnissen der Farbenerscheinungen abgeleitet. In der Erfahrung begegnet uns manches, was jenen Grundsätzen gemäß, manches, was ihnen widersprechend ist.

835. Naturmenschen, rohe Völker, Kinder haben große Neigung zur Farbe in ihrer höchsten Energie und also besonders zu dem Gelbroten. Sie haben auch eine Neigung zum Bunten. Das Bunte aber entsteht, wenn die Farben in ihrer höchsten Energie ohne harmonisches Gleichgewicht zusammengestellt worden. Findet sich aber dieses Gleichgewicht durch Instinkt oder zufällig beobachtet, so entsteht eine angenehme Wirkung. Ich erinnere mich, daß ein hessischer Offizier, der aus Amerika kam, sein Gesicht nach Art der Wilden mit reinen Farben bemalte, wodurch eine Art von Totalität entstand, die keine unangenehme Wirkung tat.

836. Die Völker des südlichen Europas tragen zu Kleidern sehr lebhafte Farben. Die Seidenwaren, welche sie leichten Kaufs haben, begünstigen diese Neigung. Auch sind besonders die Frauen mit ihren lebhaftesten Miedern und Bändern immer mit der Gegend in Harmonie, indem sie nicht imstande sind, den Glanz des Himmels und der Erde zu überscheinen.

837. Die Geschichte der Färberei belehrt uns, daß bei den Trachten der Nationen gewisse technische Bequemlichkeiten und Vorteile sehr großen Einfluß hatten. So sieht man die Deutschen viel in Blau gehen, weil es eine dauerhafte Farbe des Tuches ist, auch in manchen Gegenden alle Landleute in grünem Zwillich, weil dieser gedachte Farbe gut annimmt. Möchte ein Reisender hierauf achten, so würden ihm bald angenehme und lehrreiche Beobachtungen gelingen.

838. Farben, wie sie Stimmunzen hervorbringen, fügen sich auch zu Stimmungen und Zuständen. Lebhafte Nationen, zum Beispiel die Franzosen, lieben die gesteigerten Farben, besonders der aktiven Seite; gemäßigte‘ als Engländer und Deutsche, das Stroh- oder Ledergelb, wozu sie Dunkelblau tragen. Nach Würde strebende Nationen, als Italiener und Spanier, ziehen die rote Farbe ihrer Mäntel auf die passive Seite hinüber.

839. Man bezieht bei Kleidungen den Charakter der Farbe auf den Charakter der Person. So kann man das Verhältnis der einzelnen Farben und Zusammenstellungen zu Gesichtsfarbe, Alter und Stand beobachten. ,

840. Die weibliche Jugend hält auf Rosenfarb und Meergrün, das Alter auf Violett und Dunkelgrün. Die Blondine hat zu Violett und Hellgelb, die Brünette zu Blau und Gelbrot Neigung, und sämtlich mit Recht.

Die römischen Kaiser waren auf den Purpur höchst eifersüchtig. Die Kleidung des chinesischen Kaisers ist Orange mit Purpur gestickt. Zitronengelb dürfen auch seine Bedienten und die Geistlichen tragen.

841. Gebildete Menschen haben eine Abneigung vor Farben. Es kann dieses teils aus Schwäche des Organs, teils aus Unsicherheit des Geschmacks geschehen, die sich gern in das völlige Nichts flüchtet. Die Frauen gehen nunmehr fast durchgängig weiß und die Männer schwarz.

842. Überhaupt aber steht hier eine Beobachtung nicht am unrechten Platze, daß der Mensch, so gern er sich auszeichnet, sich auch ebenso gern unter seinesgleichen verlieren mag.

843. Die schwarze Farbe sollte den venezianischen Edelmann an eine republikanische Gleichheit erinnern.

844. Inwiefern der trübe nordische Himmel die Farben nach und nach vertrieben hat, ließe sich vielleicht auch noch untersuchen.

845. Man ist freilich bei dem Gebrauch der ganzen Farben sehr eingeschränkt, dahingegen die beschmutzten, getöteten sogenannten Modefarben unendlich viele abweichende Grade und Schattierungen zeigen, wovon die meisten nicht ohne Anmut sind.

846. Zu bemerken ist noch, daß die Frauenzimmer bei ganzen Farben in Gefahr kommen, eine nicht ganz lebhafte Gesichtsfarbe noch unscheinbarer zu machen; wie sie denn überhaupt genötigt sind, sobald sie einer glänzenden Umgebung das Gleichgewicht halten sollen, ihre Gesichtsfarbe durch Schminke zu erhöhen.

847. Hier wäre nun noch eine artige Arbeit zu machen übrig, nämlich eine Beurteilung der Uniformen, Livreen, Kokarden und andrer Abzeichen nach den oben aufgestellten Grundsätzen. Man könnte im allgemeinen sagen, daß solche Kleidungen oder Abzeichen keine harmonischen Farben haben dürfen. Die Uniformen sollten Charakter und Würde haben; die Livreen können gemein und ins Auge fallend sein. An Beispielen von guter und schlechter Art würde es nicht fehlen, da der Farbenkreis eng und schon oft genug durchprobiert worden ist.

Ästhetische Wirkung

848. Aus der sinnlichen und sittlichen Wirkung der Farben, sowohl einzeln als in Zusammenstellung, wie wir sie bisher vorgetragen haben, wird nun für den Künstler die ästhetische Wirkung abgeleitet. Wir wollen auch darüber die nötigsten Winke geben, wenn wir vorher die allgemeine Bindung malerischer Darstellung, Licht und Schatten, abgehandelt, woran sich die Farbenerscheinung unmittelbar anschließt.

Helldunkel

849. Das Helldunkel, clair-obscur, nennen wir die Erscheinung körperlicher Gegenstände, wenn an denselben nur die Wirkung des Lichtes und Schattens betrachtet wird.

850. Im engern Sinn wird auch manchmal eine Schattenpartie, welche durch Reflexe beleuchtet wird, so genannt; doch wir brauchen hier das Wort in seinem ersten allgemeinern Sinne.

851. Die Trennung des Helldunkels von aller Farbenerscheinung ist möglich und nötig. Der Künstler wird das Rätsel der Darstellung eher lösen, wenn er sich zuerst das Helldunkel unabhängig von Farben denkt und dasselbe in seinem ganzen Umfange kennen lernt.

852. Das Helldunkel macht den Körper als Körper erscheinen, indem uns Licht und Schatten von der Dichtigkeit belehrt.

853. Es kommt dabei in Betracht das höchste Licht, die Mitteltinte, der Schatten und bei dem letzten wieder der eigene Schatten des Körpers, der auf andre Körper geworfene Schatten, der erhellte Schatten oder Reflex.

854. Zum natürlichsten Beispiel für das Helldunkel wäre die Kugel günstig, um sich einen allgemeinen Begriff zu bilden, aber nicht hinlänglich zum ästhetischen Gebrauch. Die verfließende Einheit einer solchen Rundung führt zum Nebulistischen. Um Kunstwirkungen zu erzwecken, müssen an ihr Flächen hervorgebracht werden, damit die Teile der Schatten- und Lichtseite sich mehr in sich selbst absondern.

855. Die Italiener nennen dieses il piazzoso; man könnte es im Deutschen das Flächenhafte nennen. Wenn nun also die Kugel ein vollkommenes Beispiel des natürlichen Helldunkels wäre, so würde ein Vieleck ein Beispiel des künstlichen sein, wo alle Arten von Lichtern, Halblichtern, Schatten und Reflexen bemerklich wären.

856. Die Traube ist als ein gutes Beispiel eines malerischen Ganzen im Helldunkel anerkannt, um so mehr als sie ihrer Form nach eine vorzügliche Gruppe darzustellen imstande ist, aber sie ist bloß für den Meister tauglich, der das, was er auszuüben versteht, in ihr zu sehen weiß.

857. Um den ersten Begriff faßlich zu machen, der selbst von einem Vieleck immer noch schwer zu abstrahieren ist, schlagen wir einen Kubus vor, dessen drei gesehene Seiten das Licht, die Mitteltinte und den Schatten, abgesondert nebeneinander vorstellen.

858. Jedoch um zum Helldunkel einer zusammengesetztern Figur überzugehen, wählen wir das Beispiel eines aufgeschlagenen Buches, welches uns einer größern Mannigfaltigkeit näher bringt.

859. Die antiken Statuen aus der schönen Zeit findet man zu solchen Wirkungen höchst zweckmäßig gearbeitet. Die Lichtpartien sind einfach behandelt, die Schattenseiten desto mehr unterbrochen, damit sie für mannigfaltige Reflexe empfänglich würden, wobei man sich des Beispiels vom Vieleck erinnern kann.

860. Beispiele antiker Malerei geben hierzu die herkulanischen Gemälde und die Aldobrandinische Hochzeit.

861. Moderne Beispiele finden sich in einzelnen Figuren Raffaels, an ganzen Gemälden Correggios, der niederländischen Schule, besonders des Rubens.

Streben zur Farbe

862. Ein Kunstwerk schwarz und weiß kann in der Malerei selten vorkommen. Einige Arbeiten von Polydor geben uns davon Beispiele, sowie unsre Kupferstiche und geschabten Blätter. Diese Arten, insofern sie sich mit Formen und Haltung beschäftigen, sind schätzenswert; allein sie haben wenig Gefälliges fürs Auge, indem sie nur durch eine gewaltsame Abstraktion entstehen.

863. Wenn sich der Künstler seinem Gefühl überläßt, so meldet sich etwas Farbiges gleich. Sobald das Schwarze ins Blauliche fällt, entsteht eine Forderung des Gelben, das denn der Künstler instinktmäßig verteilt und teils rein in den Lichtern, teils gerötet und beschmutzt als Braun in den Reflexen zu Belebung des Ganzen anbringt, wie es ihm am rätlichsten zu sein scheint.

864. Alle Arten von Camayeu, oder Farb‘ in Farbe, laufen doch am Ende dahin hinaus, daß ein geforderter Gegensatz oder irgendeine farbige Wirkung angebracht wird. So hat Polydor in seinen schwarz und weißen Frescogemälden ein gelbes Gefäß oder sonst etwas der Art eingeführt‘

865. Überhaupt strebten die Menschen in der Kunst instinktmäßig jederzeit nach Farbe. Man darf nur täglich beobachten, wie Zeichenlustige von Tusche oder schwarzer Kreide auf weiß Papier zu farbigem Papier sich steigern, dann verschiedene Kreiden anwenden und endlich ins Pastell übergehen. Man sah in unsern Zeiten Gesichter mit Silberstift gezeichnet, durch rote Bäckchen belebt und mit farbigen Kleidern angetan; ja Silhouetten in bunten Uniformen. Paolo Uccello malte farbige Landschaften zu farblosen Figuren.

866. Selbst die Bildhauerei der Alten konnte diesem Trieb nicht widerstehen. Die Ägypter strichen ihre Basreliefs an. Den Statuen gab man Augen von farbigen Steinen. Zu marmornen Köpfen und Extremitäten fügte man porphyrne Gewänder, so wie man bunte Kalksinter zum Sturze der Brustbilder nahm. Die Jesuiten verfehlten nicht, ihren heiligen Aloysius in Rom auf diese Weise zusammenzusetzen, und die neuste Bildhauerei unterscheidet das Fleisch durch eine Tinktur von den Gewändern.

Haltung

867. Wenn die Linearperspektive die Abstufung der Gegenstände in scheinbarer Größe durch Entfernung zeigt, so läßt uns die Luftperspektive die Abstufung der Gegenstände in mehr oder minderer Deutlichkeit durch Entfernung sehen.

868. Ob wir zwar entfernte Gegenstände nach der Natur unsres Auges nicht so deutlich sehen als nähere, so ruht doch die Luftperspektive eigentlich auf dem wichtigen Satz, daß alle durchsichtigen Mittel einigermaßen trübe sind.

869. Die Atmosphäre ist also immer mehr oder weniger trüb. Besonders zeigt sie diese Eigenschaft in den südlichen Gegenden bei hohem Barometerstand, trocknem Wetter und wolkenlosem Himmel, wo man eine sehr merkliche Abstufung wenig auseinanderstehender Gegenstände beobachten kann.

870. Im allgemeinen ist diese Erscheinung jedermann bekannt; der Maler hingegen sieht die Abstufung bei den geringsten Abständen oder glaubt sie zu sehen. Er stellt sie praktisch dar, indem er die Teile eines Körpers, zum Beispiel eines völlig vorwärts gekehrten Gesichtes, voneinander abstuft. Hiebei behauptet Beleuchtung ihre Rechte. Diese kommt von der Seite in Betracht, sowie die Haltung von vorn nach der Tiefe zu.

Kolorit

871. Indem wir nunmehr zur Farbengebung übergehen, setzen wir voraus, daß der Maler überhaupt mit dem Entwurf unserer Farbenlehre bekannt sei und sich gewisse Kapitel und Rubriken, die ihn vorzüglich berühren, wohl zu eigen gemacht habe: denn so wird er sich imstande befinden, das Theoretische sowohl als das Praktische, im Erkennen der Natur und im Anwenden auf die Kunst, mit Leichtigkeit zu behandeln.

Kolorit der Orts

872. Die erste Erscheinung des Kolorits tritt in der Natur gleich mit der Haltung ein: denn die Luftperspektive beruht auf der Lehre von den trüben Mitteln. Wir sehen den Himmel, die entfernten Gegenstände, ja die nahen Schatten blau. Zugleich erscheint uns das Leuchtende und Beleuchtete stufenweise gelb bis zur Purpurfarbe. In manchen Fällen tritt sogleich die physiologische Forderung der Farben ein, und eine ganz farblose Landschaft wird durch diese mit- und gegeneinander wirkenden Bestimmungen vor unserm Auge völlig farbig erscheinen.

Kolorit der Gegenstände

873. Lokalfarben sind die allgemeinen Elementarfarben, aber nach den Eigenschaften der Körper und ihrer Oberflächen, an denen wir sie gewahr werden, spezifiziert. Diese Spezifikation geht bis ins Unendliche.

874. Es ist ein großer Unterschied, ob man gefärbte Seide oder Wolle vor sich hat. jede Art des Bereitens und Webens bringt schon Abweichungen hervor. Rauhigkeit, Glätte, Glanz kommen in Betrachtung.

875. Es ist daher ein der Kunst sehr schädliches Vorurteil, daß der gute Maler keine Rücksicht auf den Stoff der Gewänder nehmen, sondern nur immer gleichsam abstrakte Falten malen müsse. Wird nicht hierdurch alle charakteristische Abwechslung aufgehoben, und ist das Porträt von Leo X. deshalb weniger trefflich, weil auf diesem Bilde Samt, Atlas und Mohr nebeneinander nachgeahmt ward?

876. Bei Naturprodukten erscheinen die Farben mehr oder weniger modifiziert, spezifiziert, ja individualisiert, welches bei Steinen und Pflanzen, bei den Federn der Vögel und den Haaren der Tiere wohl zu beobachten ist.

877. Die Hauptkunst des Malers bleibt immer, daß er die Gegenwart des bestimmten Stoffes nachahme und das Allgemeine, Elementare der Farbenerscheinung zerstöre. Die höchste Schwierigkeit findet sich hier bei der Oberfläche des menschlichen Körpers.

878. Das Fleisch steht im ganzen auf der aktiven Seite, doch spielt das Blauliche der passiven auch mit herein. Die Farbe ist durchaus ihrem elementaren Zustande entrückt und durch Organisation neutralisiert.

879. Das Kolorit des Ortes und das Kolorit der Gegenstände in Harmonie zu bringen, wird nach Betrachtung dessen, was von uns in der Farbenlehre abgehandelt worden, dem geistreichen Künstler leichter werden, als bisher der Fall war, und er wird imstande sein, unendlich schöne, mannigfaltige und zugleich wahre Erscheinungen darzustellen.

Charakteristisches Kolorit

880. Die Zusammenstellung farbiger Gegenstände sowohl als die Färbung des Raums, in welchem sie enthalten sind, soll nach Zwecken geschehen, welche der Künstler sich vorsetzt. Hiezu ist besonders die Kenntnis der Wirkung der Farben auf Empfindung, sowohl im einzelnen als in Zusammenstellung, nötig. Deshalb sich denn der Maler von dem allgemeinen Dualism sowohl als von den besondern Gegensätzen penetrieren soll; wie er denn überhaupt wohl inne haben müßte, was wir von den Eigenschaften der Farben gesagt haben.

881. Das Charakteristische kann unter drei Hauptrubriken begriffen werden, die wir einstweilen durch das Mächtige, das Sanfte und das Glänzende bezeichnen wollen.

882. Das erste wird durch das Übergewicht der aktiven, das zweite durch das Übergewicht der passiven Seite, das dritte durch Totalität und Darstellung des ganzen Farbenkreises im Gleichgewicht hervorgebracht.

883. Der mächtige Effekt wird erreicht durch Gelb, Gelbrot und Purpur, welche letzte Farbe auch noch auf der Plusseite zu halten ist. Wenig Violett und Blau, noch weniger Grün ist anzubringen. Der sanfte Effekt wird durch Blau, Violett und Purpur, welcher jedoch auf die Minusseite zu führen ist, hervorgebracht. Wenig Gelb und Gelbrot, aber viel Grün, kann stattfinden.

884. Wenn man also diese beiden Effekte in ihrer vollen Bedeutung hervorbringen will, so kann man die geforderten Farben bis auf ein Minimum ausschließen und nur so viel von ihnen sehen lassen, als eine Ahndung der Totalität unweigerlich zu verlangen scheint.

Harmonisches Kolorit

885. Obgleich die beiden charakteristischen Bestimmungen, nach der eben angezeigten Weise, auch gewissermaßen harmonisch genannt werden können, so entsteht doch die eigentliche harmonische Wirkung nur alsdann, wenn alle Farben nebeneinander im Gleichgewicht angebracht sind.

886. Man kann hiedurch das Glänzende sowohl als das Angenehme hervorbringen, welche beide jedoch immer etwas Allgemeines und in diesem Sinne etwas Charakterloses haben werden.

887. Hierin liegt die Ursache, warum das Kolorit der meisten Neuern charakterlos ist; denn indem sie nur ihrem Instinkt folgen, so bleibt das Letzte, wohin er sie führen kann, die Totalität, die sie mehr oder weniger erreichen, dadurch aber zugleich den Charakter versäumen, den das Bild allenfalls haben könnte.

888. Hat man hingegen jene Grundsätze im Auge, so sieht man, wie sich für jeden Gegenstand mit Sicherheit eine andre Farbenstimmung wählen läßt. Freilich fordert die Anwendung unendliche Modifikationen, welche dem Genie allein, wenn es von diesen Grundsätzen durchdrungen ist, gelingen werden.

Echter Ton

889. Wenn man das Wort Ton, oder vielmehr Tonart, auch noch künftig von der Musik borgen und bei der Farbengebung brauchen will, so wird es in einem bessern Sinne als bisher geschehen können.

890. Man würde nicht mit Unrecht ein Bild von mächtigem Effekt mit einem musikalischen Stücke aus dem Durton, ein Gemälde von sanftem Effekt mit einem Stücke aus dem Mollton vergleichen; sowie man für die Modifikation dieser beiden Haupteffekte andre Vergleichungen finden könnte.

Falscher Ton

891. Was man bisher Ton nannte, war ein Schleier von einer einzigen Farbe über das ganze Bild gezogen. Man nahm ihn gewöhnlich gelb, indem man aus Instinkt das Bild auf die mächtige Seite treiben wollte.

892. Wenn man ein Gemälde durch ein gelbes Glas ansieht, so wird es uns in diesem Ton erscheinen. Es ist der Mühe wert, diesen Versuch zu machen und zu wiederholen, um genau kennen zu lernen, was bei einer solchen Operation eigentlich vorgeht. Es ist eine Art Nachtbeleuchtung, eine Steigerung, aber zugleich Verdüsterung der Plusseite und eine Beschmutzung der Minusseite.

893. Dieser unechte Ton ist durch Instinkt aus Unsicherheit dessen, was zu tun sei, entstanden, so daß man anstatt der Totalität eine, Uniformität hervorbrachte.

Schwaches Kolorit

894. Eben diese Unsicherheit ist Ursache, daß man die Farben der Gemälde so sehr gebrochen hat, daß man aus dem Grauen heraus und in das Graue hinein malt und die Farbe so leise behandelt als möglich.

895. Man findet in solchen Gemälden oft die harmonischen Gegenstellungen recht glücklich, aber ohne Mut, weil man sich vor dem Bunten fürchtet.

Das Bunte

896. Bunt kann ein Gemälde leicht werden, in welchem man bloß empirisch, nach unsichere Eindrücken, die Farben in ihrer ganzen Kraft nebeneinander stellen wollte.

897. Wenn man dagegen schwache, obgleich widrige Farben nebeneinander setzt, so ist freilich der Effekt nicht auffallend. Man trägt seine Unsicherheit auf den Zuschauer hinüber, der denn an seiner Seite weder loben noch tadeln kann.

898. Auch ist es eine wichtige Betrachtung, daß man zwar die Farben unter sich in einem Bilde richtig aufstellen könne, daß aber doch ein Bild bunt werden müsse, wenn man die Farben in Bezug auf Licht und Schatten falsch anwendet.

899. Es kann dieser Fall um so leichter eintreten, als Licht und Schatten schon durch die Zeichnung gegeben und in derselben gleichsam enthalten ist, dahingegen die Farbe der Wahl und Willkür noch unterworfen bleibt.

Furcht vor dem Theoretischen

900. Man fand bisher bei den Malern eine Furcht, ja eine entschiedene Abneigung gegen alle theoretische Betrachtungen über die Farbe und was zu ihr gehört, welches ihnen jedoch nicht übel zu deuten war. Denn das bisher sogenannte Theoretische war grundlos, schwankend und auf Empirie hindeutend. Wir wünschen, daß unsre Bemühungen diese Furcht einigermaßen vermindern und den Künstler anreizen mögen, die aufgestellten Grundsätze praktisch zu prüfen und zu beleben.

Letzter Zweck

901. Denn ohne Übersicht des Ganzen wird der letzte Zweck nicht erreicht. Von allem dem, was wir bisher vorgetragen, durchdringe sich der Künstler. Nur durch die Einstimmung des Lichtes und Schattens, der Haltung, der wahren und charakteristischen Farbengebung kann das Gemälde von der Seite, von der wir es gegenwärtig betrachten, als vollendet erscheinen.

Gründe

902. Es war die Art der ältern Künstler, auf hellen Grund zu malen. Er bestand aus Kreide und wurde auf Leinwand oder Holz stark aufgetragen und poliert. Sodann wurde der Umriß aufgezeichnet und das Bild mit einer schwärzlichen oder bräunlichen Farbe ausgetuscht. Dergleichen auf diese Art zum Kolorieren vorbereitete Bilder sind noch übrig von Leonardo da Vinci, Fra Bartolomeo und mehrere von Guido.

903. Wenn man zur Kolorierung schritt und weiße Gewänder darstellen wollte, so ließ man zuweilen diesen Grund stehen. Tizian tat es in einer spätern Zeit, wo er die große Sicherheit hatte und mit wenig Mühe viel zu leisten wußte. Der weibliche Grund wurde als Mitteltinte behandelt, die Schatten aufgetragen und die hohen Lichter aufgesetzt.

904. Beim Kolorieren war das unterlegte gleichsam getuschte Bild immer wirksam. Man malte zum Beispiel ein Gewand mit einer Lasurfarbe und das Weiße schien durch und gab der Farbe ein Leben, so wie der schon früher zum Schatten angelegte Teil die Farbe gedämpft zeigte, ohne daß sie gemischt oder beschmutzt gewesen wäre.

905. Diese Methode hat viele Vorteile. Denn an den lichten Stellen des Bildes hatte man einen hellen, an den beschatteten einen dunkeln Grund. Das ganze Bild war vorbereitet; man konnte mit leichten Farben malen, und man war der Übereinstimmung des Lichtes mit den Farben gewiß. Zu unsern Zeiten ruht die Aquarellmalerei auf diesen Grundsätzen.

906. Übrigens wird in der Ölmalerei gegenwärtig durchaus ein heller Grund gebraucht, weil Mitteltinten mehr oder weniger durchsichtig sind und also durch einen hellen Grund einigermaßen belebt, so wie die Schatten selbst nicht so leicht dunkel werden.

907. Auf dunkle Gründe malte man auch eine Zeitlang. Wahrscheinlich hat sie Tintoretto eingeführt; ob Giorgione sich derselben bedient, ist nicht bekannt. Tizians beste Bilder sind nicht auf dunkeln Grund gemalt.

908. Ein solcher Grund war rotbraun, und wenn auf denselben das Bild aufgezeichnet war, so wurden die stärksten Schatten aufgetragen, die Lichtfarben impastierte man auf den hohen Stellen sehr stark und vertrieb sie gegen den Schatten zu, da denn der dunkle Grund durch die verdünnte Farbe als Mitteltinte durchsah. Der Effekt wurde beim Ausmalen durch mehrmaliges Übergehen der lichten Partien und Aufsetzen der hohen Lichter erreicht.

909. Wenn diese Art sich besonders wegen der Geschwindigkeit bei der Arbeit empfiehlt, so hat sie doch in der Folge viel Schädliches. Der energische Grund wächst und wird dunkler; was die hellen Farben nach und nach an Klarheit verlieren, gibt der Schattenseite immer mehr und mehr Übergewicht. Die Mitteltinten werden immer dunkler und der Schatten zuletzt ganz finster. Die stark aufgetragenen Lichter bleiben allein hell, und man sieht nur lichte Flecken auf dem Bilde, wovon uns die Gemälde der bolognesischen Schule und des Caravaggio genugsame Beispiele geben.

910. Auch ist nicht unschicklich, hier noch zum Schlusse des Lasierens zu erwähnen. Dieses geschieht, wenn man eine schon aufgetragene Farbe als hellen Grund betrachtet. Man kann eine Farbe dadurch fürs Auge mischen, sie steigern, ihr einen sogenannten Ton geben; man macht sie dabei aber immer dunkler.

Pigmente

911. Wir empfangen sie aus der Hand des Chemikers und Naturforschers. Manches ist darüber aufgezeichnet und durch den Druck bekannt geworden, doch verdiente dieses Kapitel von Zeit zu Zeit neu bearbeitet zu werden. Indessen teilt der Meister seine Kenntnisse hierüber dem Schüler mit, der Künstler dem Künstler.

912. Diejenigen Pigmente, welche ihrer Natur nach die dauerhaftesten sind, werden vorzüglich ausgesucht; aber auch die Behandlungsart trägt viel zur Dauer des Bildes bei. Deswegen sind so wenig Farbenkörper als möglich anzuwenden, und die simpelste Methode des Auftrags nicht genug zu empfehlen.

913. Denn aus der Menge der Pigmente ist manches Übel für das Kolorit entsprungen. jedes Pigment hat sein eigentümliches Wesen in Absicht seiner Wirkung aufs Auge, ferner etwas Eigentümliches, wie es technisch behandelt, sein will. jenes ist Ursache, daß die Harmonie schwerer durch mehrere als durch wenige Pigmente zu erreichen ist, dieses, daß chemische Wirkung und Gegenwirkung unter den Farbekörpern stattfinden kann.

914. Ferner gedenken wir noch einiger falschen Richtungen, von denen sich die Künstler hinreißen lassen. Die Maler begehren immer nach neuen Farbekörpern und glauben, wenn ein solcher gefunden wird, einen Vorschritt in der Kunst getan zu haben. Sie tragen großes Verlangen, die alten mechanischen Behandlungsarten kennen zu lernen, wodurch sie viel Zeit verlieren, wie wir uns denn zu Ende des vorigen Jahrhunderts mit der Wachsmalerei viel zu lange gequält haben. Andre gehen darauf aus, neue Behandlungsarten zu erfinden, wodurch denn auch weiter nichts gewonnen wird. Denn es ist zuletzt doch nur der Geist, der jede Technik lebendig macht.

Allegorischer, symbolischer, mystischer Gebrauch der Farbe

915. Es ist oben umständlich nachgewiesen worden, daß eine jede Farbe einen besondern Eindruck auf den Menschen mache und dadurch ihr Wesen sowohl dem Auge als Gemüt offenbare. Daraus folgt sogleich, daß die Farbe sich zu gewissen sinnlichen, sittlichen, ästhetischen Zwecken anwenden lasse.

916. Einen solchen Gebrauch also, der mit der Natur völlig übereinträfe, könnte man den symbolischen nennen, indem die Farbe ihrer Wirkung gemäß angewendet würde und das wahre Verhältnis sogleich die Bedeutung ausspräche. Stellt man zum Beispiel den Purpur als die Majestät bezeichnend auf, so wird wohl kein Zweifel sein, daß der rechte Ausdruck gefunden worden, wie sich alles dieses schon oben hinreichend auseinandergesetzt findet.

917. Hiermit ist ein anderer Gebrauch nahe verwandt, den man den allegorischen nennen könnte. Bei diesem ist mehr Zufälliges und Willkürliches, ja man kann sagen etwas Konventionelles, indem uns erst der Sinn des Zeichens überliefert werden muß, ehe wir wissen, was es bedeuten soll, wie es sich zum Beispiel mit der grünen Farbe verhält, die man der Hoffnung zugeteilt hat.

918. Daß zuletzt auch die Farbe eine mystische Deutung erlaube, läßt sich wohl ahnden. Denn da jenes Schema, worin sich die Farbenmannigfaltigkeit darstellen läßt, solche Urverhältnisse andeutet, die sowohl der menschlichen Anschauung als der Natur angehören, so ist wohl kein Zweifel, daß man sich ihrer Bezüge, gleichsam als einer Sprache, auch da bedienen könne, wenn man Urverhältnisse ausdrücken will, die nicht ebenso mächtig und mannigfaltig in die Sinne fallen. Der Mathematiker schätzt den Wert und Gebrauch des Triangels; der Triangel steht bei dem Mystiker in großer Verehrung; gar manches läßt sich im Triangel schematisieren und die Farbenerscheinung gleichfalls, und zwar dergestalt, daß man durch Verdopplung und Verschränkung zu dem alten geheimnisvollen Sechseck gelangt.

919. Wenn man erst das Auseinandergehen des Gelben und Blauen wird recht gefaßt, besonders aber die Steigerung ins Rote genugsam betrachtet haben, wodurch das Entgegengesetzte sich gegeneinander neigt, und sich in einem Dritten vereinigt, dann wird gewiß eine besondere geheimnisvolle Anschauung eintreten, daß man diesen beiden getrennten, einander entgegengesetzten Wesen eine geistige Bedeutung unterlegen könne, und man wird sich kaum enthalten, wenn man sie unterwärts das Grün und oberwärts das Rot hervorbringen sieht, dort an die irdischen, hier an die himmlischen Ausgeburten der Elohim zu gedenken.

920. Doch wir tun besser, uns nicht noch zum Schlusse dem Verdacht der Schwärmerei auszusetzen, um so mehr als es, wenn unsre Farbenlehre Gunst gewinnt, an allegorischen, symbolischen und mystischen Anwendungen und Deutungen, dem Geiste der Zeit gemäß, gewiß nicht fehlen wird.

Zugabe

Das Bedürfnis des Malers, der in der bisherigen Theorie keine Hülfe fand, sondern seinem Gefühl, seinem Geschmack, einer unsichern Überlieferung in Absicht auf die Farbe völlig überlassen war, ohne irgendein physisches Fundament gewahr zu werden, worauf er seine Ausübung hätte gründen können, dieses Bedürfnis war der erste Anlaß, der den Verfasser vermochte, in eine Bearbeitung der Farbenlehre sich einzulassen. Da nichts wünschenswerter ist, als daß diese theoretische Ausführung bald im Praktischen genutzt und dadurch geprüft und schnell weiter geführt werde, so muß es zugleich höchst willkommen sein, wenn wir finden, daß Künstler selbst schon den Weg einschlagen, den wir für den rechten halten.

Ich lasse daher zum Schluß, um hiervon ein Zeugnis abzugeben, den Brief eines talentvollen Malers, des Herrn Philipp Otto Runge, mit Vergnügen abdrucken, eines jungen Mannes, der, ohne von meinen Bemühungen unterrichtet zu sein, durch Naturell, Übung und Nachdenken sich auf die gleichen Wege gefunden hat. Man wird in diesem Briefe, den ich ganz mitteile, weil seine sämtlichen Glieder in einem innigen Zusammenhange stehen, bei aufmerksamer Vergleichung gewahr werden, daß mehrere Stellen genau mit meinem Entwurf übereinkommen, daß andere ihre Deutung und Erläuterung aus meiner Arbeit gewinnen können, und daß dabei der Verfasser in mehreren Stellen mit lebhafter Überzeugung und wahrem Gefühle mir selbst auf meinem Gange vorgeschritten ist. Möge sein schönes Talent praktisch betätigen, wovon wir uns beide überzeugt halten, und möchten wir bei fortgesetzter Betrachtung und Ausübung mehrere gewogene Mitarbeiter finden.

Wolgast, den 3. Juli 1806

 

Nach einer kleinen Wanderung, die ich durch unsere anmutige Insel Rügen gemacht hatte, wo der stille Ernst des

 

Meeres von den freundlichen Halbinseln und Tälern, Hügeln und Felsen auf mannigfaltige Art unterbrochen wird, fand ich zu dem freundlichen Willkommen der Meinigen auch noch Ihren werten Brief, und es ist eine große Beruhigung für mich, meinen herzlichen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, daß meine Arbeiten doch auf irgendeine Art ansprechen möchten. Ich empfinde es sehr, wie Sie ein Bestreben, was auch außer der Richtung, die Sie der Kunst wünschen, liegt, würdigen; und es würde ebenso albern sein, Ihnen meine Ursachen, warum ich so arbeite, zu sagen, als wenn ich bereden wollte, die meinige wäre die rechte.

Wenn die Praktik für jeden mit so großen Schwierigkeiten verbunden ist, so ist sie es in unsern Zeiten im höchsten Grade. Für den aber, der in einem Alter, wo der Verstand schon eine große Oberhand erlangt hat, erst anfängt, sich in den Anfangsgründen zu üben, wird es unmöglich, ohne zugrundezugehen, aus seiner Individualität heraus sich in ein allgemeines Bestreben zu versetzen.

Derjenige, der, indem er sich in der unendlichen Fülle von Leben, die um ihn ausgebreitet ist, verliert, und unwiderstehlich dadurch zum Nachbilden angereizt wird, sich von dem totalen Eindrucke ebenso gewaltig ergriffen fühlt, wird gewiß auf eben die Weise, wie er in das Charakteristische der Einzelnheiten eingeht, auch in das Verhältnis, die Natur und die Kräfte der großen Massen einzudringen suchen.

Wer in dem beständigen Gefühl, wie alles bis ins kleinste Detail lebendig ist, und aufeinander wirkt, die großen Massen betrachtet, kann solche nicht ohne eine besondere Konnexion oder Verwandtschaft sich denken, noch viel weniger darstellen, ohne sich auf die Grundursachen einzulassen‘ Und tut er dies, so kann er nicht eher wieder zu der ersten Freiheit gelangen, wenn er sich nicht gewissermaßen bis auf den reinen Grund durchgearbeitet hat.

Um es deutlicher zu machen, wie ich es meine: ich glaube, daß die alten deutschen Künstler, wenn sie etwas von der Form gewußt hätten, die Unmittelbarkeit und Natürlichkeit des Ausdrucks in ihren Figuren würden verloren haben, bis sie in dieser Wissenschaft einen gewissen Grad erlangt hätten.

Es hat manchen Menschen gegeben, der aus freier Faust Brücken und Hängewerke und gar künstliche Sachen gebaut hat. Es geht auch wohl eine Zeitlang, wann er aber zu einer gewissen Höhe gekommen und er von selbst auf mathematische Schlüsse verfällt, so ist sein ganzes Talent fort, er arbeite sich denn durch die Wissenschaft durch wieder in die Freiheit hinein.

So ist es mir unmöglich gewesen, seit ich zuerst mich über die besondern Erscheinungen bei der Mischung der drei Farben verwundene, mich zu beruhigen, bis ich ein gewisses Bild von der ganzen Farbenwelt hatte, welches groß genug wäre, um alle Verwandlungen und Erscheinungen in sich zu schließen.

Es ist ein sehr natürlicher Gedanke für einen Maler, wenn er zu wissen begehrt, indem er eine schöne Gegend sieht oder auf irgendeine Art von einem Effekt in der Natur angesprochen wird, aus welchen Stoffen gemischt dieser Effekt wiederzugeben wäre. Dies hat mich wenigstens angetrieben, die Eigenheiten der Farben zu studieren, und ob es möglich wäre, so tief einzudringen in ihre Kräfte, damit es mir deutlicher würde, was sie leisten oder was durch sie gewirkt wird oder was auf sie wirkt. Ich hoffe, daß Sie mit Schonung einen Versuch ansehen, den ich bloß aufschreibe, um Ihnen meine Ansicht deutlich zu machen, die, wie ich doch glaube, sich praktisch nur ganz auszusprechen vermag. Indes hoffe ich nicht, daß es für die Malerei unnütz ist, oder nur entbehrt werden kann, die Farben von dieser Seite anzusehen; auch wird diese Ansicht den physikalischen Versuchen, etwas Vollständiges über die Farben zu erfahren, weder widersprechen noch sie unnötig machen.

Da ich Ihnen hier aber keine unumstößlichen Beweise vorlegen kann, weil diese auf eine vollständige Erfahrung begründet sein müssen, so bitte ich nur, daß Sie auf Ihr eignes

Gefühl sich reduzieren möchten, um zu verstehen, wie ich meinte, daß ein Maler mit keinen andern Elementen zu tun hätte als mit denen, die Sie hier angegeben finden.

1. Drei Farben, Gelb, Rot und Blau, gibt es bekanntlich nur, wenn wir diese in ihrer ganzen Kraft annehmen, und stellen sie uns wie einen Zirkel vor, zum Beispiel (siehe die Tafeln)

Rot

Orange

Violett

Gelb

Blau

Grün

 

so bilden sich aus den drei Farben Gelb, Rot und Blau drei Übergänge, Orange, Violett und Grün (ich heiße alles Orange, was zwischen Gelb und Rot fällt oder was von Gelb oder Rot aus sich nach diesen Seiten hinneigt), und diese sind in ihrer mittleren Stellung am brillantesten und die reinen Mischungen der Farben.

2. Wenn man sich ein bläuliches Orange, ein rötliches Grün oder ein gelbliches Violett denken will, wird einem so zumute wie bei einem südwestlichen Nordwinde. Wie sich aber ein warmes Violett erklären läßt, gibt es im Verfolg vielleicht Materie.

3. Zwei reine Farben wie Gelb und Rot geben eine reine Mischung Orange. Wenn man aber zu solcher Blau mischt, so wird sie beschmutzt, also daß, wenn sie zu gleichen Teilen geschieht, alle Farbe in ein unscheinendes Grau aufgehoben ist.

Zwei reine Farben lassen sich mischen, zwei Mittelfarben aber heben sich einander auf oder beschmutzen sich, da ein Teil von der dritten Farbe hinzugekommen ist.

Wenn die drei reinen Farben sich einander aufheben in Grau, so tun die drei Mischungen, Orange, Violett und Grün, dasselbe in ihrer mittlern Stellung, weil die drei Farben wieder gleich stark darin sind.

Da nun in diesem ganzen Kreise nur die reinen Übergänge der drei Farben liegen und sie durch ihre Mischung nur den Zusatz von Grau erhalten, so liegt außer ihnen zur größern Vervielfältigung noch Weiß und Schwarz.

4. Das Weiß macht durch seine Beimischung alle Farben matter, und wenn sie gleich heller werden, so verlieren sie doch ihre Klarheit und Feuer.

5. Schwarz macht alle Farben schmutzig, und wenn es solche gleich dunkler macht, so verlieren sie ebensowohl ihre Reinheit und Klarheit.

6. Weiß und Schwarz miteinander gemischt gibt Grau.

7. Man empfindet sehr leicht, daß in dem Umfang von den drei Farben nebst Weiß und Schwarz der durch unsre Augen empfundene Eindruck der Natur in seinen Elementen nicht erschöpft ist. Da Weiß die Farben matt und Schwarz sie schmutzig macht, werden wir daher geneigt, ein Hell und Dunkel anzunehmen. Die folgenden Betrachtungen werden uns aber zeigen, inwiefern sich hieran zu halten ist.

8. Es ist in der Natur außer dem Unterschied von Heller und Dunkler in den reinen Farben noch ein andrer wichtiger auffallend. Wann wir zum Beispiel in einer Helligkeit und in einer Reinheit rotes Tuch, Papier, Taft, Atlas oder Sammet, das Rote des Abendrots oder rotes durchsichtiges Glas annehmen, so ist da noch ein Unterschied, der in der Durchsichtigkeit oder Undurchsichtigkeit der Materie liegt.

9. Wenn wir die drei Farben Rot, Blau und Gelb undurchsichtig zusammen mischen, so entsteht ein Grau, welches Grau ebenso aus Weiß und Schwarz gemischt werden kann.

10. Wenn man diese drei Farben durchsichtig also mischt, daß keine überwiegend ist, so erhält man eine Dunkelheit die durch keine von den andern Teilen hervorgebracht werden kann.

11. Weiß sowohl als Schwarz sind beide undurchsichtig oder körperlich. Man darf sich an dem Ausdruck weißes Glas nicht stoßen, womit man klares m2int. Weißes Wasser wird man sich nicht denken können, was rein ist, so wenig wie klare Milch. Wenn das Schwarze bloß dunkel machte, so könnte es wohl klar sein, da es aber schmutzt, so kann es solches nicht.

12. Die undurchsichtigen Farben stehen zwischen dem Weißen und Schwarzen; sie können nie so hell wie Weiß und nie so dunkel wie Schwarz sein.

13. Die durchsichtigen Farben sind in ihrer Erleuchtung wie in ihrer Dunkelheit grenzenlos, wie Feuer und Wasser als ihre Höhe und ihre Tiefe angesehen werden kann.

14. Das Produkt der drei undurchsichtigen Farben, Grau, kann durch das Licht nicht wieder zu einer Reinheit kommen, noch durch eine Mischung dazu gebracht werden; es verbleicht entweder zu Weiß oder verkohlt sich zu Schwarz.

15. Drei Stücken Glas von den drei reinen durchsichtigen Farben würden aufeinander gelegt eine Dunkelheit hervorbringen, die tiefer wäre als jede Farbe einzeln, nämlich so: Drei durchsichtige Farben zusammen geben eine farblose Dunkelheit, die tiefer ist als irgendeine von den Farben. Gelb ist zum Exempel die hellste und leuchtendste unter den drei Farben, und doch, wenn man zu ganz dunklem Violett so viel Gelb mischt, bis sie sich einander aufheben, so ist die Dunkelheit in hohem Grade verstärkt.

16. Wenn man ein dunkles durchsichtiges Glas, wie es allenfalls bei den optischen Gläsern ist, nimmt, und von der halben Dicke eine polierte Steinkohle, und legt beide auf einen weißen Grund, so wird das Glas heller erscheinen; verdoppelt man aber beide, so muß die Steinkohle stille stehen wegen der Undurchsichtigkeit; das Glas wird aber bis ins Unendliche sich verdunkeln, obwohl für unsre Augen nicht sichtbar. Eine solche Dunkelheit können ebensowohl die einzelnen durchsichtigen Farben erreichen, so daß Schwarz dagegen nur wie ein schmutziger Fleck erscheint.

17. Wenn wir ein solches durchsichtiges Produkt der drei durchsichtigen Farben auf die Weise verdünnen und das Licht durchscheinen ließen, so wird es auch eine Art Grau geben, die aber sehr verschieden von der Mischung der drei undurchsichtigen Farben sein würde.

18. Die Helligkeit an einem klaren Himmel bei Sonnenaufgang dicht um die Sonne herum oder vor der Sonne her kann so groß sein, daß wir sie kaum ertragen können. Wenn wir nun von dieser dort vorkommenden farblosen Klarheit als einem Produkt von den drei Farben auf diese schließen wollten, so würden diese so heil sein müssen und so sehr über unsere Kräfte weggerückt, daß sie für uns dasselbe Geheimnis blieben wie die in der Dunkelheit versunkenen.

19. Nun merken wir aber auch, daß die Helligkeit oder Dunkelheit nicht in den Vergleich oder Verhältnis zu den durchsichtigen Farben zu setzen sei, wie das Schwarz und Weiß zu den undurchsichtigen. Sie ist vielmehr eine Eigenschaft und eins mit der Klarheit und mit der Farbe. Man stelle sich einen reinen Rubin vor, so dick oder so dünn man will, so ist das Rot eins und dasselbe, und ist also nur ein durchsichtiges Rot, welches hell oder dunkel wird, je nachdem es vom Licht erweckt oder verlassen wird. Das Licht entzündet natürlich ebenso das Produkt dieser Farben in seiner Tiefe und erhebt es zu einer leuchtenden Klarheit, die jede Farbe durchscheinen läßt. Diese Erleuchtung, der sie fähig ist, indem das Licht sie zu immer höherem Brand entzündet, macht, daß sie oft unbemerkt um uns wogt und in tausend Verwandlungen die Gegenstände zeigt, die durch eine einfache Mischung unmöglich wären, und alles in seiner Klarheit läßt und noch erhöht. So können wir über die gleichgültigsten Gegenstände oft einen Reiz verbreitet sehen, der meist mehr in der Erleuchtung der zwischen uns und dem Gegenstand befindlichen Luft liegt als in der Beleuchtung seiner Formen.

20. Das Verhältnis des Lichts zur durchsichtigen Farbe ist, wenn man sich darein vertieft, unendlich reizend, und das Entzünden der Farben und das Verschwimmen ineinander und Wiederentstehen und Verschwinden ist wie das Odemholen in großen Pausen von Ewigkeit zu Ewigkeit vom höchsten Licht bis in die einsame und ewige Stille in den allertiefsten Tönen.

21. Die undurchsichtigen Farben stehen wie Blumen dagegen, die es nicht wagen, sich mit dem Himmel zu messen, und doch mit der Schwachheit von der einen Seite, dem Weißen, und dem Bösen, dem Schwarzen, von der andern zu tun haben.

22. Diese sind aber gerade fähig, wenn sie sich nicht mit Weiß noch Schwarz vermischen, sondern dünn darüber gezogen werden, so anmutige Variationen und so natürliche Effekte hervorzubringen, daß sich an ihnen gerade der praktische Gebrauch der Ideen halten muß, und die durchsichtigen am Ende nur wie Geister ihr Spiel darüber haben und nur dienen, um sie zu heben und zu erhöhen in ihrer Kraft.

Der feste Glaube an eine bestimmte geistige Verbindung in den Elementen kann dem Maler zuletzt einen Trost und Heiterkeit mitteilen, den er auf keine andre Art zu erlangen imstande ist, da sein eignes Leben sich so in seiner Arbeit verliert und Materie, Mittel und Ziel in eins zuletzt in ihm eine Vollendung hervorbringt, die gewiß durch ein stets fleißiges und getreues Bestreben hervorgebracht werden muß, so daß es auch auf andere nicht ohne wohltätige Wirkung bleiben kann.

Wenn ich die Stoffe, womit ich arbeite, betrachte, und ich halte sie an den Maßstab dieser Qualitäten so weiß ich bestimmt, wo und wie ich sie anwenden kann, da kein Stoff, den wir verarbeiten, ganz rein ist. Ich kann mich hier nicht über die Praktik ausbreiten, weil es erstlich zu weitläuftig wäre, auch ich bloß im Sinne gehabt habe, Ihnen den Standpunkt zu zeigen, von welchem ich die Farben betrachte.

Schlußwort

Indem ich diese Arbeit, welche mich lange genug beschäftigt, doch zuletzt nur als Entwurf gleichsam aus dem Stegreife herauszugeben im Falle hin und nun die vorstehenden gedruckten Bogen durchblättere, so erinnere ich mich des Wunsches, den ein sorgfältiger Schriftsteller vormals geäußert, daß er seine Werke lieber zuerst ins Konzept gedruckt sähe, um alsdann aufs neue mit frischem Blick an das Geschäft zu gehen, weil altes Mangelhafte uns im Drucke deutlicher entgegen komme als selbst in der saubersten Handschrift.

Um wie lebhafter mußte bei mir dieser Wunsch entstehen, da ich nicht einmal eine völlig reinliche Abschrift vor dem Druck durchgehen konnte, da die sukzessive Redaktion dieser Blätter in eine Zeit fiel, welche eine ruhige Sammlung des Gemüts unmöglich machte.

Wie vieles hätte ich daher meinen Lesern zu sagen, wovon sich doch manches schon in der Einleitung findet. Ferner wird man mir vergönnen, in der Geschichte der Farbenlehre auch meiner Bemühungen und der Schicksale zu gedenken, welche sie erduldeten.

Hier aber stehe wenigstens eine Betrachtung vielleicht nicht am unrechten Orte, die Beantwortung der Frage: was kann derjenige, der nicht im Fall ist, sein ganzes Leben den Wissenschaften zu widmen, doch für die Wissenschaften leisten und wirken? was kann er als Gast in einer fremden Wohnung zum Vorteile der Besitzer ausrichten?

Wenn man die Kunst in einem höhern Sinne betrachtet so möchte man wünschen, daß nur Meister sich damit abgäben, daß die Schüler auf das strengste geprüft würden, daß Liebhaber sich in einer ehrfurchtsvollen Annäherung glücklich fühlten. Denn das Kunstwerk soll aus dem Genie entspringen, der Künstler soll Gehalt und Form aus der Tiefe seines eigenen Wesens hervorrufen, sich gegen den Stoff beherrschend verhalten und sich der äußern Einflüsse nur zu seiner Ausbildung bedienen.

Wie aber dennoch aus mancherlei Ursachen schon der Künstler den Dilettanten zu ehren hat, so ist es bei wissenschaftlichen Gegenständen noch weit mehr der Fall, daß der Liebhaber etwas Erfreuliches und Nützliches zu leisten imstande ist. Die Wissenschaften ruhen weit mehr auf der Erfahrung als die Kunst, und zum Erfahren ist gar mancher geschickt. Das Wissenschaftliche wird von vielen Seiten zusammengetragen und kann vieler Hände, vieler Köpfe nicht entbehren. Das Wissen läßt sich überliefern, diese Schätze können vererbt werden; und das von einem Erworbene werden manche sich zueignen. Es ist daher niemand, der nicht seinen Beitrag den Wissenschaften anbieten dürfte. Wie vieles sind wir nicht dem Zufall, dem Handwerk, einer augenblicklichen Aufmerksamkeit schuldig. Alle Naturen, die mit einer glücklichen Sinnlichkeit begabt sind, Frauen, Kinder sind fähig, uns lebhafte und wohlgefaßte Bemerkungen mitzuteilen.

In der Wissenschaft kann also nicht verlangt werden, daß derjenige, der etwas für sie zu leisten gedenkt, ihr das ganze Leben widme, sie ganz überschaue und umgehe; welches überhaupt auch für den Eingeweihten eine hohe Forderung ist. Durchsucht man jedoch die Geschichte der Wissenschaften überhaupt, besonders aber die Geschichte der Naturwissenschaft, so findet man, daß manches Vorzüglichere von einzelnen in einzelnen Fächern, sehr oft von Laien geleistet worden.

Wohin irgend die Neigung, Zufall oder Gelegenheit den Menschen führt, welche Phänomene besonders ihm auffallen, ihm einen Anteil abgewinnen, ihn festhalten, ihn beschäftigen, immer wird es zum Vorteil der Wissenschaft sein. Denn jedes neue Verhältnis, das an den Tag kommt, jede neue Behandlungsart, selbst das Unzulängliche, selbst der Irrtum ist brauchbar oder aufregend und für die Folge nicht verloren.

In diesem Sinne mag der Verfasser denn auch mit einiger Beruhigung, auf seine Arbeit zurücksehen; in dieser Betrachtung kann er wohl einigen Mut schöpfen zu dem, was zu tun noch übrig bleibt, und, zwar nicht mit sich selbst zufrieden, doch in sich selbst getrost, das Geleistete und zu Leistende einer teilnehmenden Welt und Nachwelt empfehlen.

Multi pertransibunt et augebitur sciontia