Goethes Naturwissenschaftliche Schriften: Ernst Stiedenroth

PSYCHOLOGIE ZUR ERKLÄRUNG DER SEFLENERSCHEINUNGEN

ERSTER TEIL, BERLIN 1824

Von jeher zählte ich unter die glücklichen Ereignisse meines Lebens, wenn ein bedeutendes Werk gerade zu der Zeit mir in die Hand kam, wo es mit meinem gegenwärtigen Bestreben übereinstimmte, mich in meinem Tun bestärkte und also auch förderte. Oft fanden sich dergleichen aus höherem Altertume; gleichzeitige jedoch waren die wirksamsten, denn das Allernächste bleibt doch immer das Lebendigste.

Nun begegnet mir dieser angenehme Fall mit obgenanntem Buche. Es langt bei mir, durch die Geneigtheit des Verfassers, zeitig an und trifft mich gerade in dem Augenblick, da ich die Bemerkungen über Purkinje, die schon mehrere Jahre bei mir gelegen, endlich zum Druck absende.

Die Philosophen vom Fach werden das Werk beurteilen und würdigen, ich zeige nur kürzlich an, wie es mir damit ergangen.

Wenn man sich einen Zweig denkt, der, einem sanft hin- abgleitenden Bache überlassen, seinen Weg so genötigt als willig verfolgt, vielleicht von einem Stein augenblicklich aufgehalten, vielleicht in irgendeiner Krümmung einige Zeit verweilend, sodann aber von der lebendigen Welle fortgetragen immer wieder unaufhaltsam im Zuge bleibt, so vergegenwärtigt man sich die Art und Weise, wie die folgerechte und folgenreiche Schrift auf mich gewirkt.

Der Verfasser wird am besten einsehen, was ich eigentlich damit sagen wollte; denn schon früher habe ich an mancher Stelle den Unmut geäußert, den mir in jüngeren Jahren die Lehre von den untern und obern Seelenkräften erregte. In dem menschlichen Geiste sowie im Universum ist nichts oben noch unten, alles fordert gleiche Rechte an einen gemeinsamen Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das harmonische Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert. Alle Streitigkeiten der Altern und Neuern bis zur neusten Zeit entspringen aus der Trennung dessen, was Gott in seiner Natur vereint hervorgebracht. Recht gut wissen wir, daß in einzelnen menschlichen Naturen gewöhnlich ein Übergewicht irgendeines Vermögens, einer Fähigkeit sich hervortut und daß daraus Einseitigkeiten der Vorstellungsart notwendig entspringen, indem der Mensch die Welt nur durch sich kennt und also, naiv anmaßlich, die Welt durch ihn und um seinetwillen aufgebaut glaubt. Daher kommt denn, daß er seine Hauptfähigkeiten an die Spitze des Ganzen setzt und, was an ihm das Mindere sich findet, ganz und gar ableugnen und aus seiner eigenen Totalität hinausstoßen möchte. Wer nicht überzeugt ist, daß er alle Manifestationen des menschlichen Wesens, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand, zu einer entschiedenen Einheit ausbilden müsse, welche von diesen Eigenschaften auch bei ihm die verwaltende sei, der wird sich in einer unerfreulichen Beschränkung immerfort abquälen und niemals begreifen, warum er so viele hartnäckige Gegner hat und warum er sich selbst sogar manchmal als augenblicklicher Gegner aufstößt.

So wird ein Mann, zu den sogenannten exakten Wissenschaften geboren und gebildet, auf der Höhe seiner Verstandesvernunft nicht leicht begreifen, daß es auch eine exakte sinnliche Phantasie geben könne, ohne welche doch eigentlich keine Kunst denkbar ist. Auch um denselben Punkt streiten sich die Schüler einer Gefühls- und Vernunftreligion; wenn die letzteren nicht eingestehen wollen, daß die Religion vom Gefühl anfange, so wollen die ersten nicht zugeben, daß sie sich zur Vernünftigkeit ausbilden müsse.

Dies und dergleichen ward bei mir durch abgemeldetes Werk erregt. jeder, der es liest, wird auf seine Weise Vor- teil davon haben, und ich kann erwarten, daß bei näherer Betrachtung es noch oft mir als Text zu mancher glücklichen Note Gelegenheit geben werde.

Hier eine Stelle (S. 140), wo sich das Gebiet des Denkens unmittelbar an das Feld des Dichtens und Bildens anschließt wohin wir oben einige Blicke gewagt haben:

«Es geht aus dem Bisherigen hervor, daß das Denken Reproduktion voraussetzt. Die Reproduktion richtet sich nach der jedesmaligen Bestimmtheit der Vorstellung. Auf der einen Seite wird daher für ein tüchtiges Denken eine hinreichend scharfe Bestimmtheit der gegenwärtigen Vorstellung vorausgesetzt, auf der andern Reichtum und angemessene Verbindung des zu Reproduzierenden. Diese Verbindung des zu Reproduzierenden, wie sie für das Denken taugt, wird selbst großenteils erst im Denken gestiftet, wiefern aus mehrerem das Entsprechende eine besondere Verbindung durch das nähere Verhältnis seines Inhalts eingeht. Das tüchtige Denken in jeder Weise wird daher ganz abhängen von der Zweckmäßigkeit der Reproduktion, deren man fähig ist. Wer in dieser Hinsicht nichts Rechtes vorrätig hat, der wird nichts Rechtes leisten. Wessen Reproduktionen dürftig sind, der wird Geistesarmut zeigen; wessen Reproduktionen einseitig sind, der wird einseitig denken; wessen Reproduktionen ungeordnet und verworren sind, der wird den hellen Kopf vermissen lassen, und so im übrigen. Das Denken also macht sich nicht etwa aus nichts, sondern es setzt eine hinreichende Vorbildung, Vorverbindung und da, wo es Denken im engern Sinn ist, eine der Sache entsprechende Verbindung und Ordnung der Vorstellungen voraus, wobei sich die erforderliche Vollständigkeit von selbst versteht.»