Goethes Naturwissenschaft: Erfinden und Entdecken

Es ist immer der Mühe wert nachzudenken, warum die vielfachen und harten Kontestationen über Priorität bei Entdecken und Erfinden beständig fortdauern und aufs neue entstehen.

Zum Entdecken gehört Glück, zum Erfinden Geist, und beide können beides nicht entbehren.

Dieses spricht aus und beweist, daß man, ohne Überlieferung, unmittelbar persönlich Naturgegenstände oder deren Eigenschaften gewahr werden könne.

Das Erkennen und Erfinden sehen wir als den vorzüglichsten selbst erworbenen Besitz an und brüsten uns damit.

Der kluge Engländer verwandelt ihn durch ein Patent sogleich in Realitäten und überhebt sich dadurch alles verdriesslichen Ehrenstreites.

Aus obigem aber ersehen wir, wie sehr wir von Autorität, von Überlieferung abhängen, daß ein ganz frisches, eigentümliches Gewahrwerden so hoch geachtet wird; deshalb auch niemand zu verargen ist, wenn er nicht aufgeben will, was ihn vor so vielen andern auszeichnet.

John Hunter, Spätlingsohn eines Landgeistlichen, ohne Unterricht bis ins sechzehnte Jahr heraufgewachsen, wie er sich ans Wissen begibt, gewinnt schnell das Vorgefühl von vielen Dingen, er entdeckt dieses und jenes durch geniale Übersicht und Folgerung; wie er sich aber darauf gegen andere etwas zugute tut, muß er zu seiner Verzweiflung erfahren, daß das alles schon entdeckt sei.

Endlich, da er als Prosektor seines viel ältern Bruders, Professors der Anatomie, wirklich im menschlichen Körperbau etwas Neues entdeckt, der Bruder aber in seinen Vorlesungen und Programmen davon Gebrauch macht, ohne seiner zu gedenken, entsteht in ihm ein solcher Haß, es ergibt sich ein Zwiespalt zwischen beiden, der zum öffentlichen Skandal wird und nach großem, ruhmvoll durcharbeitetem Leben auf dem Todbette sich nicht ausgleichen läßt.

Solche Verdienste des eignen Gewahrwerdens sehen wir uns durch Zeitgenossen verkümmert, daß es not täte, Tag und Stunde nachzuweisen, wo uns eine solche Offenbarung geworden. Auch die Nachkommen bemühen sich, Überlieferungen nachzuweisen; denn es gibt Menschen, die, um nur etwas zu tun, das Wahre schelten und das Falsche loben und sich aus der Negation des Verdienstes ein Geschäft machen.

Um sich die Priorität zu bewahren einer Entdeckung, die er nicht aussprechen wollte, ergriff Galilei ein geistreiches Mittel: er versteckte seine Erfindung anagrammatisch in lateinische Verse, die er sogleich bekannt machte, um sich im Falle ohne weiteres dieses öffentlichen Geheimnisses bedienen zu können.

Ferner ist Entdecken, Erfinden, Mitteilen, Benutzen so nah verwandt, daß mehrere bei einer solchen Handlung als eine Person können angesehen werden. Der Gärtner entdeckt, daß das Wasser in der Pumpe sich nur auf eine gewisse Höhe heben lässt; der Physiker verwandelt eine Flüssigkeit in die andere, und ein großes Geheimnis kommt an den Tag; eigentlich war jener der Entdecker, dieser der Erfinder. Ein Kosak führt den Reisenden Pallas zu der großen Masse gediegenen Eisens in der Wüste; jener ist der Finder, dieser der Aufdecker zu nennen; es trägt seinen Namen, weil er es uns bekannt gemacht hat.

Ein merkwürdiges Beispiel, wie die Nachwelt irgend- einem Vorfahren die Ehre zu rauben geneigt ist, sehen wir an den Bemühungen, die man sich gab, Christoph Colomb die Ehre der Entdeckung der neuen Welt zu entreißen. Freilich hatte die Einbildungskraft den westlichen Ozean schon längst mit Inseln und Land bevölkert, daß man sogar in der ersten düstern Zeit lieber eine ungeheuere Insel untergehen ließ, als daß man diese Räume leer gelassen hätte. Freilich waren die Nachrichten von Asien her schon weit herangerückt, Kühngesinnten und Wagehälsen genügte die Küstenschiffahrt nicht mehr, durch die glückliche Unternehmung der Portugiesen war die ganze Welt in Erregung; aber es gehörte denn doch zuletzt ein Mann dazu, der das alles zusammenfaßte, uni Fabel und Nachricht, Wahn und Überlieferung in Wirklichkeit zu verwandeln.

 

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